Keine Regierung der Welt stösst eine Diskussion um das Rentenalter ohne Not an. Als Bundesrat Pascal Couchepin vor rund zehn Jahren anregte, über eine Erhöhung von 65 auf 67 Jahre nachzudenken, schlug ihm von allen Seiten Entrüstung entgegen. Noch heute bekämpfen frauenbewegte Politiker und Politikerinnen die Erhöhung des Frauen-Pensionsalters von 64 auf 65 Jahre.
Schwierige Diskussion um Rentenalter
Offenbar ist vielen entgangen, dass seit der Gründung der AHV 1948 die mittlere Lebenserwartung für Männer von 66 auf 80,5 Jahre und für Frauen von 71 auf 84,7 Jahre angestiegen ist. Zudem trugen 1948 9,2 AHV-Beitragszahler einen einzigen Rentner, während heute gerade noch 2,6 Erwerbstätige für einen Pensionisten aufkommen müssen. Die Erhöhung des Rentenalters ist mithin sowohl ein finanzielles Gebot als auch – vielleicht noch wichtiger – eine Frage des Lebensentwurfs.
Das Schweizer Beispiel ist hier deshalb von Belang, weil es zeigt, dass westliche Industriestaaten und Japan zuerst wirtschaftlich reich geworden sind, und erst danach die massive Alterung der Bevölkerung eingesetzt hat. Ganz anders in China und andern Schwellenländern.
Wachstum von Bevölkerung und Wirtschaft
Zwar hat sich die Volksrepublik in den vergangenen 35 Jahren der Wirtschaftsreform mit traumhaften Wachstumsraten prächtig entwickelt. Die Armut ist entscheidend zurückgedrängt, den Menschen geht es besser und vor allem leben sie länger denn je zuvor. Allerdings hat die demographische Entwicklung zu Ungleichgewichten geführt.
Die chinesische Bevölkerung ist enorm angewachsen. Bei der Gründung der Volksrepublik 1949 zählten die Statistiker 560 Millionen Einwohner. Für den «Grossen Steuermann» und Staatsgründer Mao Dsedong war eine möglichst hohe Einwohnerzahl wichtig. So verhöhnte er denn auch die Atommacht Amerika als einen «Papiertiger», weil China einen Nuklearschlag, wenn auch mit Dutzenden von Millionen Todesopfern, ohne weiteres überleben könne. Mit Beginn der Wirtschaftsreform 1978 wurde die Ein-Kind-Familienpolitik eingeführt. Zur Sicherung des Wohlstands, wie der grosse Reformer Deng Xiaoping damals argumentierte.
Die erste Milliarde wurde 1984 und die 1,3-Milliardenmarke zwanzig Jahre später erreicht. Heute leben in China 1,36 Milliarden Menschen. In zwanzig Jahren werden es nach offiziellen chinesischen Prognosen 1,5 Milliarden sein. Zur Jahrhundertmitte wird mit einem Maximum von rund 1,6 Milliarden gerechnet. Ohne die Ein-Kind-Familienpolitik wäre dieses Maximum wohl schon heute erreicht – mit unabsehbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen.
Tiefes Rentenalter
Bei der Einführung der AHV 1948 machte ein Rentenalter von 65 Jahren durchaus Sinn. Die Lebenserwartung für Schweizer Männer betrug, wie erwähnt, 66 Jahre, für Frauen waren es 71 Jahre. Auch in China ist es deshalb nicht erstaunlich, dass bei der Staatsgründung 1949 das Rentenalter für Angestellte beim Staat, bei der Partei und den Staatsbetrieben sehr tief angesetzt worden ist. Die mittlere Lebenserwartung betrug 1950 nur 41 Jahre. Frauen durften sich so zwischen ihren 50. und 55. Altersjahr zur Ruhe setzen, die Männer mussten bis zum 60. Altersjahr am Arbeitsplatz ausharren.
Heute verabschieden sich Chinesinnen und Chinesen im Schnitt mit 53 Jahren in den Ruhestand. Und so ist es bis zum heutigen Tag geblieben. Die Lebenserwartung freilich ist von den einst tiefen 41 Jahren auf heute 71 Jahre für Männer und 75 Jahre für Frauen angestiegen. Das Rentenalter jedoch blieb unangetastet. Nach repräsentativen Umfragen soll das, wenig verwunderlich, auch in Zukunft so bleiben. Satte siebzig Prozent der Befragten wollen partout kein höheres Rentenalter. Ähnliche Umfrageergebnisse wären wohl auch in der Schweiz zu erwarten.
Kurskorrektur
Chinas rote Mandarine – angefangen bei Parteichef Xi Jinping und Premier Li Kejiang – wollen freilich lang aufgeschobene Veränderungen jetzt möglichst schnell nachholen in einem rasch sich entwickelnden wirtschaftlichen und sozialen Umfeld. Das Ministerium für Personelles und Soziale Sicherheit hat in- und ausländische Experten, die Weltbank und die Internationale Arbeitsorganisation eingeschlossen, um Rat gefragt.
Das Rentenalter, so die übereinstimmenden Empfehlungen, soll für Männer und Frauen um fünf Jahre angehoben werden. Immerhin «eine stufenweise Anhebung» des Rentenalters fand dann Ende letzten Jahres im jährlichen Partei-Powwow über Ökonomie Eingang ins offizielle Strategie-Papier. Personal-Minister Yin Weimin wurde noch deutlicher: «Wir werden definitiv den Plan noch vor 2020 einführen.»
Der Entscheid von ganz Oben kommt nicht zu früh. Erstmals nämlich beginnt die Zahl der arbeitsfähigen Bevölkerung leicht zu sinken. In den letzen zwei Jahren um sechs Millionen auf 700 Millionen insgesamt. Die Zahl der Rentner freilich steigt. Derzeit sind es rund 200 Millionen. In zehn Jahren werden es 300 Millionen, und bis Mitte des Jahrhunderts könnten es nach Berechnungen chineischer Demographen fast eine halbe Milliarde sein. Das wäre dann, so Zhang Juwei von der Akademie für Sozialwissenschaften, ein knappes Drittel der Gesamtbevölkerung. Zhangs Verdikt: «Vor dem Hintergrund der derzeitigen Geburtenrate altert China extrem schnell im internationalen Vergleich.»
China wird alt, bevor es reich wird
Chinas Modernisierung der letzten dreieinhalb Jahrzehnte war atemberaubend und einmalig in der Weltgeschichte. Bei der Alterung der Gesellschaft ging es jedoch noch viel schneller. Anders ausgedrückt: China wird alt, bevor es reich wird. Die Schweiz, Japan, die westlichen Industrienationen wurden dagegen reich, bevor sie alt wurden. In Zahlen ausgedrückt: Das Brutto-Inlandprodukt (BIP) pro Kopf in Industriestaaten – so Direktor Li Wei, Forscher bei einer Denkfabrik der Regierung – habe zwischen 5’000 und 10’000 US-Dollar betragen, als der Prozess der gesellschaftlichen Alterung begann. Doch als der Alterungsprozess in China einsetzte, lag das Pro-Kopf-BIP lediglich bei etwa 1’000 US-Dollar.
Für alle Menschen ist im 21. Jahrhundert die steigende Lebenserwartung eine finanzielle, besonders aber soziale Herausforderung. Für China ist die Aufgabe umso schwieriger zu lösen, weil das Rentensystem unterentwickelt ist und dringend der Erweiterung bedarf – schon um Luan, das heisst soziales Chaos und Unruhen zu verhindern.
Ein Angestellter oder Arbeiter in der Stadt (Regierung, Staatsbetriebe) kommt pro Jahr auf eine Rente von 22’000 Yuan (umgerechnet etwa 3’700 Franken). Ein Bauer, so er denn überhaupt versichert ist, erhält knapp 900 Yuan. Mit diesen Summen kann man weder in Chinas Städten und noch viel weniger auf dem Land leben. Das Ziel der Regierung ist ein flächendeckendes System mit Rente und Krankenversicherung für alle. Davon jedoch ist man derzeit in China noch weit entfernt.
Respekt vor dem Alter
Die Regierung in Peking lässt es nicht dabei bewenden. Schliesslich ist die Rentenfrage auch eng an die offizielle Parteilinie der «Harmonischen Gesellschaft» und des «Chinesischen Traums» geknüpft. Deshalb haben die Behörden mit dem speziell dafür gestalteten «Gesetz zum Schutze der Rechte und Interessen älterer Menschen» im vergangenen Jahr Meister Kong bemüht.
Das wirkt natürlich in einer konfuzianisch geprägten Kultur, wo Respekt vor dem Alter tief im kollektiven Bewusstsein verankert ist. Kinder sind nun qua Gesetz verpflichtet, sich um die Altvorderen zu bemühen. Spirituell, vor allem aber auch materiell. Das wird nicht immer leicht sein. Mit der Ein-Kind-Familie nämlich ist eine Generation junger Chinesen und Chinesinnen herangewachsen, die sich alleine um Eltern und Grosseltern kümmern müssen. Es ist das 4-2-1-Syndrom: ein Kind, zwei Eltern, vier Grosseltern. Nicht von ungefähr wurde die Ein-Kind-Familinepolitik vor kurzem leicht gelockert. Wenn beide Ehepartner aus einer Ein-Kind-Familie stammen, dürfen sie zwei Kinder haben. Das ist gut für den finanziellen aber auch für den spirituell, sozialen, also den konfuzianischen Aspekt des Problems.
Immerhin, in China muss man dank Meister Kong noch nicht zum Euphemismus «Senioren» greifen. Alte dürfen noch echt alt sein und werden von den Jungen mit grossem Respekt Alte genannt.