Die Sehnsucht ist es, die uns hier in diesem nüchternen Sitzungszimmer zusammenführt. Ein bisschen vielleicht die Sehnsucht nach dem zu Ende gehenden Sommer, der durchs offene Fenster noch ein wenig Wärme bringt, während der kühle Wind schon frostigere Zeiten ankündigt. Im Mittelpunkt aber steht «Endstation Sehnsucht», dieses Südstaaten-Drama von Tennessee Williams, eingebettet in die schwüle Hitze Louisianas und überschattet von den rauen Sitten im Umgang miteinander. Vor allem in der Film-Version hat «Endstation Sehnsucht» Kultstatus erlangt. Marlon Brando! Vivien Leigh! Die Bilder haben sich im optischen Gedächtnis mehrerer Generationen von Filmfans festgesetzt.
Auch bei Bastian Kraft (T+T Fotografie, Toni Suter, Tanja Dorendorf). Er ist Regisseur und noch jung, wenn auch nicht mehr ganz jung. Er ist ruhig und sympathisch und hat so gar nichts von einem aufgekratzten Künstler. Das hat er auch gar nicht nötig. Schliesslich hat er am Zürcher Schauspielhaus Furore gemacht mit höchst eigenständigen Interpretationen wie den «Buddenbrooks» oder «Homo Faber», um nur die letzten beiden zu nennen. Und er ist natürlich auch auf den grossen Bühnen zwischen Hamburg, Berlin und Wien erfolgreich und gefragt. Zuhause ist er allerdings in Zürich. Und dies schon seit acht Jahren, also noch bevor er überhaupt für das Schauspielhaus zu arbeiten begonnen hat. «Es ist angenehm, hier zu leben», sagt er, «und als freier Regisseur ist es egal, wo man wohnt».
Von Jugend an fasziniert
Momentan steckt Bastian Kraft noch in den Proben zu «Endstation Sehnsucht». «Es ist ein Stoff, den ich kenne, seit ich 16 oder 17 war. Das Stück hat mich damals schon fasziniert, ohne genau zu wissen, warum», sagt er. Inzwischen ist er 38 und schon seit ein paar Jahren wollte er «Endstation Sehnsucht» auf die Bühne bringen. «Hier in Zürich ist mein Wunsch dann auf fruchtbaren Boden gefallen.» Allerdings dauerte es noch vier Jahre, bis es schliesslich in den Spielplan passte. Und Zürich hat bereits eine lange Geschichte mit «Endstation Sehnsucht»: Am 10. November 1949 fand auf der Pfauenbühne die deutschsprachige Erstaufführung statt. Hat dieser Umstand irgendeine Bedeutung für Kraft? «Es hat für mich eine Bedeutung, und zwar auf einer allgemeinen Ebene», bestätigt er. «Weil man im Theater immer auf einer grossen Tradition aufbaut, spürt man – wenn man nur schon hinter der Bühne durch die Gänge läuft – dass viele Theaterleute hier gearbeitet haben. Und dass das Stück auf dieser Bühne schon ‘eingeschrieben’ ist. Für das Konkrete spielt das aber keine Rolle. Man muss immer wieder bei Null anfangen und eine leere Bühne füllen. Und gerade, wenn man weiss, dass es schon sehr gute Inszenierungen dieses Stücks gab, stellt sich mir die Frage, ob ich das überhaupt anschauen will. In diesem Fall heisst das, ich will den Film nicht noch einmal sehen, weil man dann sofort Bilder im Kopf hat.»
Und wenn jemand wie Marlon Brando die Hauptrolle spielt, ist der Film im wahrsten Sinne des Wortes «besetzt». «Das stimmt. Aber ich bin sehr froh, dass wir Michael Neuenschwander für diese Rolle gewinnen konnten, weil er sie auf wunderbare Weise mit seiner eigenen Persönlichkeit füllt und ihr eine grosse Widersprüchlichkeit verleiht. Deshalb habe ich seit der ersten Probe nur noch ihn als Kowalski im Kopf und habe Marlon Brando sofort vergessen.»
Menschliche Konflikte
Aber trotzdem: Wie geht Kraft heute an diesen Stoff heran? «In diesem Fall war für mich die Besetzung extrem wichtig. Es war mir von Anfang an klar, dass es um Menschen geht und die Konflikte untereinander. Also, es gibt nicht, wie zum Beispiel bei Brecht, eine gesellschaftspolitische Ebene, die man in den Vordergrund stellt und wo die Figuren zweitrangig sind.» Das Stück spielt in den Vierzigerjahren in New Orleans und kommt jetzt rund siebzig Jahre später in Zürich auf die Bühne. Wurden da Anpassungen vorgenommen? Oder die Übersetzung modernisiert?
«Ich habe es nicht irgendwo anders hin transferiert», sagt Kraft. «Im Stück wird oft Louisiana genannt und bei mir heisst es dann: ‘hier im Staat gilt dies oder das…’ Aber natürlich spielt es in Amerika, weil die Leute Stanley und Stella und Eunice heissen, also amerikanische Namen tragen. Und natürlich spielt es in den Vierzigerjahren, das merkt man an der gesellschaftlichen Rollenverteilung. Trotzdem habe ich alles herausgenommen, was zu deutlich darauf hinweist, weil es dann leichter fällt, die Geschichte auf sich selbst zu beziehen.»
Und wie soll das gehen? Was ist die Hauptaussage? «Die gibt es nicht», sagt Bastian Kraft ohne Umschweife. «Gerade bei Stücken wie ‘Endstation Sehnsucht’ habe ich ganz grosse Hemmungen, Aussagen zu treffen. Ich sehe es auch nicht als meine Aufgabe als Regisseur, dass ich 800 Leute einlade, sich in den Zuschauerraum zu setzen, um von mir belehrt zu werden: das und das ist schlecht oder ihr müsst mal dieses und jenes machen … Also, es geht nicht darum, eine Botschaft loszuwerden, sondern ich möchte das Publikum dazu bringen, verschiedene Seiten zu verstehen. Es geht in dem Stück um einen grossen Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Figuren, Stanley und Blanche. Mir ist es wichtig, mich nicht auf eine Seite zu stellen. Also nicht zu sagen, Stanley hat recht und Blanche ist eine Lügnerin. Ich möchte die unterschiedlichen Menschen nachvollziehbar machen. Und wenn es eine Aussage gibt, dann diese: Menschliche Konflikte sind oft sehr ambivalent. Es ist oft nicht leicht, zu sagen, wer an einer Situation schuld ist. Und da ist das Theater gut, weil es noch Raum und Luft bietet, um Themen zu behandeln, die in vielen anderen Medien verkürzt werden müssen, weil die moderne Berichterstattung ganz stark über Vereinfachung und Reduktion funktioniert.»
Abstraktion statt Möbel und Gerümpel
Ein besonderes Markenzeichen von Krafts Inszenierungen ist das Bühnenbild, das häufig in Zusammenarbeit mit Peter Baur entsteht. Abstrakt, nichts Zufälliges, klar gestylt, aber nicht modisch. Sehr attraktiv und sehr typisch. «Diese Art von Bühnenbild hilft mir sehr, mich vom allzu Konkreten zu befreien. Die Vorgaben im Stück sind ja hyperrealistisch: zwei Zimmer, dazwischen ein Vorhang und so weiter … und gerade um Figuren in den Fokus zu stellen, ist es wichtig, dass sie sich nicht zwischen Möbeln und Gerümpel befinden, sondern in einem abstrakten Bild stehen. So sehe ich als Zuschauer einen Raum, in den ich meine Phantasie einfliessen lassen kann.» Gleichzeitig gibt es auch immer ein Grundprinzip. Bei «Homo Faber» war es das Laufband, bei den «Buddenbrooks» der lange Tisch, der nach und nach zersägt wird. «Diesmal haben wir auch wieder etwas gefunden … Aber ich will nicht zu viel verraten», sagt er mit entschuldigendem Lächeln.
«Den Rest, den ich noch zu sagen hab’, sage ich hoffentlich auf der Bühne», fügt er noch bei. Na gut. Dann drücken wir mal die Daumen und sagen toi toi toi.
«Endstation Sehnsucht»
Schauspielhaus Zürich
Premiere: 20. Oktober 2018