Das Publikum im Zürcher Opernhaus ist verblüfft: Da greift der Dirigent während der Vorstellung aufs Mal zur Geige, spielt als Solist mit und behält sein Orchester gleichzeitig völlig unter Kontrolle. Nach der Pause wendet Dmitry Sinkovsky sich zum Publikum und singt eine Arie – jetzt als Countertenor. Betörend schön. Voller Schmelz und Melancholie. Eine Art Vorwort zum zweiten Teil der Oper. Dann dreht er sich zur Bühne um, das Orchester spielt, die Handlung geht weiter. Das Publikum ist hingerissen.
So vieles ist ungewöhnlich an Dmitry Sinkovsky, dass man kaum weiss, wo man anfangen soll. Und auch die Oper, die er zurzeit in Zürich dirigiert, ist eine Rarität. «Eliogabalo» wurde 1668 für den Karneval in Venedig komponiert und noch vor der Uraufführung wieder zurückgezogen. Schon damals schien der Stoff heikel zu sein, denn es geht um einen queeren römischen Kaiser, der mal als Mann und mal als Frau auftrat, mal Männerhosen, mal Frauenkleider trug und sich darüber hinaus mal mit Männern, mal mit Frauen verlustierte und sich ihrer später durch Mord und Totschlag auch wieder entledigte. Aktueller könnte ein Opernstoff kaum sein. Das Stück blieb verschollen, bis es vor gut zwanzig Jahren wiederentdeckt und seither auch ein paar Mal aufgeführt wurde.
Intensive Vorarbeit
Nun also in Zürich und unter der musikalischen Leitung von Dmitry Sinkovsky. «Barockmusik ist voller Emotionen», schwärmt er. Diese Emotionen sind sicher schon mal vorgegeben vom Komponisten Francesco Cavalli, der übrigens ein Schüler von Claudio Monteverdi war. Aber um das Werk aufzuführen, braucht es noch das Arrangement und die Instrumentierung durch den Dirigenten. «Es gibt im Original ein paar musikalische Vorgaben, den Rest erledigt der Dirigent nach eigener Vorstellung. Ich habe mir eine relativ grosse Orchesterbesetzung ausgesucht, mit der grösstmöglichen Anzahl von Instrumenten. Da gibt es Blockflöten, Zink, Dulcian, einen Vorläufer des Fagotts und eine grosse Continuo-Gruppe, angeleitet vom Cembalo. Dazu Lauten, Harfe und Gamben.»
Die Vorbereitung war anspruchsvoll. Aber Sinkovsky hatte Luca Pianca zur Seite, und der Tessiner ist international einer der renommiertesten Lautenisten. «Ausserdem ist er einer meiner besten Freunde», sagt Sinkovsky strahlend. «Luca ist nicht nur ein grossartiger Lautenist, sondern auch Experte für das 16. Jahrhundert. Ich spreche zwar italienisch, aber wenn man mit Schriften aus jener Zeit arbeitet, dann muss man die Sprache auch in ihren Finessen und Doppeldeutigkeiten verstehen, und das kann Luca. Und da muss ich auch gleich Giorgio Paronuzzi erwähnen, einen wunderbaren Cembalo-Spieler. Ich hatte ein grossartiges Team.»
Voller Begeisterung spricht Dmitry Sinkovsky auch vom Orchester «La Scintilla», das einst von Nikolaus Harnoncourt als Ensemble für Alte Musik am Opernhaus Zürich gegründet wurde. «Ah, Nikolaus Harnoncourt … eines meiner grössten Vorbilder! Er war ein Genie …», schwärmt Sinkovsky. «Dieses Orchester ist wirklich phänomenal, es ist ein Privileg, hier mit ihnen zu arbeiten.»
Und wenn er schon am Schwärmen ist, dann schliesst er auch Calixto Bieto ein, den Regisseur, mit dem er sich schon vor zwei Jahren, also ganz am Anfang, über «Eliogabalo» auseinandergesetzt hat. «Wenn man mit einem kreativen Regisseur zusammenarbeitet, ist das wie bei einem Baum, der wächst. Man kommt mit seinen eigenen Vorstellungen, der Regisseur mit seinen Ideen und die Sänger haben auch noch Vorschläge.
Dann wächst dieser wundervolle Baum, mal in diese, mal in jene Richtung und er ändert seine Form. In den ersten Proben haben wir uns alle erst mal kennengelernt und wir haben versucht, herauszufinden, was wir voneinander erwarten. Dann setzt man die ersten Ideen um, und die beginnen unterschiedlich zu wachsen. Schliesslich wird daraus ein grosser Baum mit vielen Blättern … Ich hatte nie das Gefühl, der Tag ist vorüber und morgen ist ein anderer Tag. Es ist ein langer Prozess, mit einem guten Team und unglaublichen Musikern.»
Glücksfall und Herausforderung
Für Sinkovsky ist «Eliogabalo» in mehrfacher Hinsicht ein Glücksfall. Dmitry Sinkovsky ist Russe und konnte vor zwei Jahren, als er den Vertrag für diese Produktion unterschrieb, nicht ahnen, wie sich die politische Situation verändern würde. Als das Angebot des Zürcher Opernhauses kam, musste Sinkovsky verschiedene andere Projekte absagen oder verschieben, darunter auch Händels «Messiah» in den USA, und er war überglücklich nach dem langen Corona-Unterbruch wieder eine Oper machen zu können. Zumal ein fast unbekanntes Stück. «Das ist eine grosse Verantwortung, ein Werk sozusagen aus dem weissen Papier heraus zu entwickeln. Aber es bietet auch eine Fülle von Interpretations-Freiheiten und man entdeckt etwas wirklich Neues. Das ist eine Herausforderung.»
Und mit Yuriy Mynenko steht in der Titel-Rolle des Eliogabalo ein Ukrainer auf der Bühne. Ein Problem? «Nein, überhaupt nicht», sagt Sinkovsky sofort. «Wir kennen uns von früher her, Yuriy sang auch in Moskau im Bolschoi und ist froh, jetzt hier singen zu können. Natürlich möchten wir alle Frieden, das ist keine Frage. Jeder möchte reisen können und in Sicherheit sein. Es ist wirklich grossartig, dass das Opernhaus uns zusammen auftreten lässt … Es ist wundervoll!»
Am Anfang war die Geige
Dmitry Sinkovsky ist heute 42 Jahre alt und wurde in Moskau geboren. Den Weg zur Musik fand er durch eine Tante, die in Moskau Musik unterrichtete. «Meine beiden Eltern waren in jungen Jahren auch als Pianisten ausgebildet worden, haben sich dann jedoch für andere Berufe entschieden. Aber sie hatten eine gute musikalische Basis, das war in vielen Familien Tradition. Damit wurden auch die Fähigkeiten der Kinder früh erkannt und man schickte sie in Musikschulen. So habe ich angefangen, Geige zu spielen.»
Sein Ziel war aber von Anfang an das Dirigieren. «Man braucht allerdings einen weiten Background, um zu wissen, was man mit einem Orchester machen kann, wie man mit Bläsern und Streichern und Sängern umgeht und wie man sie unterstützen kann.» Um sich diesen weiten Background zu erarbeiten, hat Sinkovsky auch Gesang studiert. «Da war ich 23 oder 24 Jahre alt und hatte eine gute Tenorstimme. Dann habe ich Michael Chance getroffen, er ist Countertenor und sagte, wenn ich Lust hätte, könne ich zu ihm kommen, und er wurde mein erster Lehrer.»
Dass er nun aber in Zürich nicht nur als Dirigent und Geiger antritt, sondern auch als Countertenor singt, das sei die Idee von Regisseur Calixto Bieto, betont Sinkovsky. «Er sagte zu mir, du musst einfach etwas singen, denn ich weiss, dass du auch Sänger bist.» Auf grossen Widerstand ist Bieto bei Sinkovsky mit diesem Befehl nicht gestossen …
Russische Virtuosität und italienische Cantabilità
Dmitry Sinkovsky hat mittlerweile auch Übung darin, gleichzeitig als Dirigent, Geiger und Countertenor aufzutreten. Insbesondere mit seinem eigenen Ensemble «La Voce Strumentale» ist er immer in dreifacher Funktion tätig. So auch 2018 beim Lucerne Festival, wo er mit «La Voce Strumentale» und zusammen mit Julia Lezhneva Pergolesis «Stabat Mater» aufführte und mit seinem Dreifach-Talent für Verblüffung und Begeisterung sorgte. Die französische Zeitung «Le Monde» hat Sinkovskys fabelhafte Fähigkeiten als Mischung aus russischer Virtuosität und italienischer Cantabilità bezeichnet – und genau das ist es.
Sinkovsky ist zwar Spezialist für Alte Musik, aber Zeitgenössisches hat es ihm auch angetan. «Songs & Poems» heisst eine CD, für die Sinkovsky den russischen Komponisten Sergey Akhunov beauftragt hat, englische Gedichte von Edward Estling Cummings und russische Texte von Olga Sedakova zu vertonen. Das Besondere daran ist die Orchestrierung: Denn die Neue Musik wird von «La Voce Strumentale» auf historischen Barock-Instrumenten gespielt, dazu Dmitry Sinkovsky als Countertenor und auch hier wieder Julia Lezhneva. Eine faszinierende Mischung von ungewohnten Klangeffekten, melodiös, auch ein bisschen melancholisch – und einfach schön.
Und als wenn das alles noch nicht genug wäre: Seit Februar ist Dmitry Sinkovsky auch Chefdirigent der Oper in Nischni Nowgorod, einer Millionenstadt an der Wolga, die in der Sowjetzeit Gorki hiess. Dort warten nun der «Barbiere di Seviglia», die «Traviata» und «Carmen» als nächste Produktionen auf ihn. Musik ist also weit mehr als ein roter Faden im Leben von Dmitry Sinkovsky. «Musik ist mein Leben», sagt er und strahlt übers ganze Gesicht. «Musik ist nicht nur mein Beruf. Es ist meine Leidenschaft. Mein Alles …!»
Francesco Cavalli «Eliogabalo»,
Opernhaus Zürich
«Songs & Poems»
Glossa GCD 924402