Geburtsstunde war der 26. September 1946. Gezeichnet von den europaweiten Zerstörungen starteten der Radiomann Roger Nordmann und der Westschweizer Entertainer Jack Rollan auf dem Sender von Radio Sottens (heute RTS) eine Sammelaktion für Waisenkinder des 2. Weltkriegs. Sie kamen vor allem aus England, aber auch aus Belgien. Zahlreiche Familien in der Schweiz hatten sich gemeldet, Kriegswaisen, die alles verloren hatten, für einige Monate bei sich aufzunehmen. Allerdings herrschte auch in der Schweiz vielerorts Armut, so dass etliche hilfsbereite Familien finanzielle Unterstützung benötigten.
Schuhe, Würste, Zigarren …
Gesammelt wurde damals auch Geld, aber vor allem trafen innert kürzester Zeit im Radiostudio in Lausanne zahllose Hilfsgüter wie Matratzen, Kleider, Schuhe, Spielsachen, Würste und Kisten voller Zigarren ein. Gruppen zogen durch die Dörfer und die Leute spendeten vor Ort, warfen ihre Gaben zum Teil aus den Fenstern in die Sammeltücher.
Das Radio bestätigte sich erstmals im grossen Stil als Solidaritätsmedium: Die ganze Suisse Romande sang die „Gavotte“, ein Lied, das mit dem Refrain „il y a du bonheur partout“ endet – die Chaîne du Bonheur war geboren. Allerdings waren die Radiomacher mit der Verteilung all dieser Güter rasch überfordert und suchten einen Partner zur Bewältigung der Hilfswelle. Sie fanden diesen beim Roten Kreuz. Diese Rollenaufteilung bestätigte sich bereits früh: Das Medium sammelte das Geld, die Umsetzung der Hilfe übernahmen Werke, welche die nötige Erfahrung mitbrachten.
Humanitäres Domino
Nach dieser sehr erfolgreichen Kampagne beschlossen Nordmann und Rollan, die Idee in bescheidenerem Rahmen weiter zu führen: Dazu stand im Sendeplan neu eine wöchentliche Rubrik, die Personen und Einrichtungen in der Schweiz unterstützte. Die Begünstigten durften dann jeweils bestimmen, an wen in der Folgewoche die „Glücks-Kette“ weitergereicht werden sollte. Dieses humanitäre Domino machte in der Westschweiz das Radio und die Gründerväter der „Chaîne“ rasch populär.
Glückskette wird national
Die Idee, übers Radio regelmässig direkte Hilfe zu leisten, fand rasch ihr Echo in den übrigen Landesteilen. 1947/48 schlossen sich die SRG-Radios in der Deutschschweiz und im Tessin der Bewegung an: Es folgten Spendenaufrufe nach Überschwemmungen in der Poebene, nach einem Grubenunglück in Belgien, nach einem Erdbeben in Algerien und auch zugunsten der sogenannten „Öl-Soldaten“ in der Schweiz. Bei der Zubereitung von Käseschnitten war – nach einer fatalen Verwechslung – Gewehröl statt Speiseöl verwendet worden, was zu lebenslangen schweren Schädigungen bei den Wehrmännern führte.
Damals hätte aber noch niemand die Prognose gewagt, dass die „Glückskette“ dereinst ihren 70. Geburtstag feiern und mit insgesamt 1,7 Milliarden gespendeten Geldern zur grössten privaten humanitären Finanzierungsinstitution der Schweiz werden würde. Neben der bekannten Katastrophenhilfe im In- und Ausland, wo die Glückskette mit rund 25 erfahrenen Schweizer Hilfswerken zusammenarbeitet, finanziert die Glückskette auch heute noch eine permanente Kinder- und Sozialhilfe.
Von der SRG initiierte Stiftung
Jahrelang fanden Organisation und „Verwaltung“ der Glückskette in einem Schubladenstock im Büro des Westschweizer Radiodirektors Platz. Doch das Werk wuchs: Aus einem humanitären Partner wurden vier, in Lausanne, später in Genf, wurde eine Arbeitsstelle eingerichtet. Doch die Gelder in Millionenhöhe verfälschten in der Buchhaltung der SRG ihre Bilanz derart, dass der damalige Generaldirektor Leo Schürmann um die Chance einer notwendigen Gebührenerhöhung bangte. 1983 wurde aus dem Sammelsystem eine von der SRG initiierte Stiftung, in deren Gremien auch heute noch mehrere VertreterInnen der Radio- und Fernsehgesellschaft sitzen. So steht die Präsidentschaft der Stiftung ex officio unter der Aegide der SRG.
Heute hat die Glückskette ihren Hauptsitz in Genf, Kontaktstellen in Zürich, Chur und Lugano. Auf bloss 15,2 Vollzeitstellen arbeiten rund 20 Angestellte. Ihnen zur Seite stehen u. a. ein Stiftungsrat, zwei Projektkommissionen (spezialisiert für Inland und Ausland), eine Finanz- und Anlagekommission sowie ein externer Expertenpool zur Projektbegleitung und Projektkontrolle.
„Schau, dass möglichst viel Geld zusammenkommt.“
Einige Jahre nach meiner Anstellung als Radiojournalist, so um 1978, kam mein damaliger Chef zu mir und fragte mich, ob ich in der kommenden Woche für ihn einen Sammeltag der Glückskette moderieren würde, er selber sei in den Ferien und suche einen Stellvertreter.
Was ich denn da genau machen müsse, wollte ich von ihm wissen. „Das ist ganz einfach: Schau, dass möglichst viel Geld zusammenkommt.“, war seine Antwort. Dies war denn auch meine ganze Einführung in die Arbeit der Glückskette …
Nach seinem Urlaub mandatierte er mich gleich zum künftigen Moderator von Sammeltagen: „Du hast das ja bestens gemacht – ich habe noch so viele andere Sachen zu lösen.“, lautete sein Kommentar. Das lief alles recht gut, bis eines Tages bei mir der Brief eines Spenders eintraf: Eben hatte er von der Glückskette in Genf einen Dankesbrief erhalten – was ihn freute. Allerdings hatte es auf 13 Zeilen 11 Deutschfehler darin – was ihn bedeutend weniger erfreute. Mich traf aber vielmehr der Satz, den er von Hand reingeschrieben hatte: „Ich hoffe allerdings, dass ihr mit dem Geld sorgfältiger umgeht als mit der deutschen Sprache.“ Das sass. Nach Rücksprache mit unseren welschen Kollegen einigten wir uns, dass ich künftig alle Korrespondenz auf Deutsch vor dem Versand supervisieren würde. So rutschte ich mehr und mehr in diverse Aufgaben für die Glückskette, die bei grossen Sammelaktionen später bis zu 80 Prozent meiner Anstellung ausmachten.
Millionenhilfe immer auch für die Schweiz
In der Zwischenzeit haben gegen 50 Sammeltage und über 190 Spendenaufrufe stattgefunden. Die Glückskette hat sich professionalisiert, die Kommunikation fürs Spenden und die Berichterstattung über Geleistetes wurden ausgebaut, die neuen Medien integriert, wie es sich für den „humanitären Arm“ eines grossen Medienunternehmens gehört. Grosse Sammlungen gab es nach dem Tsunami 2004 (227 Mio), Unwettern im Wallis, Tessin 2000 (74 Mio), dem Erdbeben Haiti 2010 (66.7 Mio), zum Syrienkonflikt mit den Flüchtlingen 2012-2016 (51,5 Mio); nach dem Unwetter in der Schweiz 2005 (49,5 Mio) oder dem Erdbeben in Nepal 2015 (32,2 Mio). Entgegen einer immer wieder geäusserten Kritik, die Glückskette helfe immer nur im Ausland, lässt sich belegen, dass über ein Viertel der Katastrophespenden in der Schweiz eingesetzt wurde und allein für die Sozialhilfe in unserem Land über all die Jahre über 100'000 Einzelpersonen und Familien mit gegen 40 Mio Franken geholfen werden konnte.
Effizient eingesetzte Spendegelder
Gerade noch nicht einsetzbare Gelder werden vorübergehend sicher angelegt – mit diesen Zinsen finanziert die Glückskette weitgehend ihre Eigenkosten. Somit wird der gespendete Franken annähernd zu 100 Prozent umgesetzt. Mit der Realisierung betraute Hilfswerke dürfen ihrerseits höchstens 10 Prozent Projektbegleitungskosten geltend machen und müssen die von der Projektkommission genehmigten Hilfsprogramme mit eigenen Mitteln mitfinanzieren. Fazit: Spenden an die Glückskette gehören zu den am effizientesten eingesetzten Spendegeldern.
Laufend angepasste Sammelmethoden
Die Glückskette ging immer mit der Zeit und integriert laufend neue Entwicklungen in ihre Sammelmethoden und Medienarbeit. So erfüllt sie ihre „Bringschuld“ über einen modernen, viersprachigen Internet-Auftritt, mit ihrem allen zugänglichen Jahresbericht, mit regelmässigen Sendungen in den SRG-eigenen Medien. Sie arbeitet aber auch eng mit den „Privatradios pro Glückskette“ (PPG) zusammen und legt ebenso in zahlreichen Pressemitteilungen Rechenschaft über ihre Tätigkeit ab. Sie arbeitet eng mit ihren Partnern wie Swisscom, Post oder Keystone zusammen. Neue Sammelformen werden kontinuierlich analysiert und, wo sinnvoll, umgesetzt. Mit SRF3 und dem Fernsehen wurde beispielsweise vor einigen Jahren für ein jüngeres Publikum eine neue Sammelform unter „Jeder Rappen zählt“ gestartet.
Solidarität statt Glück
Es ist schwierig zu sagen, wie sich das Fundraising in den nächsten zehn, zwanzig Jahren entwickeln wird. Sicher werden Spendenabläufe mehr und mehr digitalisiert. Die Mobilisierung von Spenderinnen und Spendern wird – wie Crowdfunding zeigt – vermehrt über die elektronischen „sozialen Medien“ erfolgen. Spenderinnen und Spender interessieren sich immer mehr konkret für Projekte und oft weniger für die Organisation, die dahinter steht. Wer die Klaviatur künftiger Kommunikationsmittel beherrscht, wird erfolgreich bleiben – aber immer mehr und vor allem internationale Hilfsorganisationen werden in einheimische Spendenmärkte eindringen und somit die Konkurrenz vergrössern. Zusammenarbeit unter gleichzeitiger Spezialisierung dürfte wichtiger werden.
Würde man die Glückskette auch heute noch „Glückskette“ taufen? Der Name erinnert eher an eine überholte, paternalistische Haltung: Hilfe zu erhalten, soll für die Betroffenen offenbar Glück bedeuten. Diese Haltung hat sich überlebt. Ich habe in der Öffentlichkeit immer wieder zu erklären versucht, dass das Glück nicht beim Empfangenden, sondern beim Dienenden liegt. Nämlich zu den Privilegierten zu gehören, die geben dürfen und nicht empfangen müssen.
Im Laufe meiner jahrzehntelangen Tätigkeit für die Glückskette gab es zahllose lustige Episoden und berührende Anekdoten. Ein Beispiel:
Nach einer – nach dem Gaza-Krieg nicht ganz unumstrittene Sammelaktion zugunsten Palästinas – schreibt uns eine Hörerin empört: „Jetzt reichts mir! Ich bestelle ab sofort die ‚Glückspost’ ab!“
Ich bin heute noch überzeugt, dass Spenden an die Glückskette weitgehend ein spontaner Bauch- und weniger ein Kopfentscheid ist. Befragungen zeigen klar, dass Spenden weitgehend emotional und weniger rational abläuft. Es ist ein spontanes Gefühl von Solidarität und weniger das Bedürfnis, Glück zu bringen. Deshalb nannte sich die Glückskette auf Englisch schon immer „Swiss Solidarity“ – ein Name, den sie jetzt in allen Sprachen im Untertitel führt: Die solidarische Schweiz.
Eine Filmwochenschau aus den Anfangszeiten
*) Roland Jeanneret arbeitete über 40 Jahre als Journalist an Radio und Fernsehen, war jahrelang Mitarbeiter und später Leiter Kommunikation bei der Stiftung Glückskette und hat Bücher und Artikel zu Fragen der humanitären Hilfe geschrieben. Seit kurzem steht er der sozialen und humanitären Crowdfunding-Stiftung www.icareforyou.ch vor.