Die Muslimbrüder und mit ihnen verbündete Anhänger eines politisierten Islams demonstrieren seit fast einem Monat in grossen Massen in Kairo und in so gut wie allen ägyptischen Provinzstädten. In Kairo haben sie neben den beiden seit Anfang Juli bestehenden Protestlagern zwei neue «Sit-ins» eröffnet, wo Tausende von ihnen permanent, manche mit mit Frauen und Kindern, lagern. An diesen Plätzen sind Zelte als Sonnenschutz, Podien für Volksansprachen, Märkte zur Versorgung, Pressezentren, Notfallkliniken, Barrikaden aus Zementblöcken und Pflastersteinen aus dem Boden gewachsen. Es gibt auch Sicherheitsequipen, mit Schlagstöcken bewaffnet, die dafür sorgen sollen, dass keine Provokateure in die Lager eindringen. Die Anwohner allerdings beklagen sich, dass die sich dort aufhaltenden Menschenmassen ihre Notdurft oftmals in ihren Gärten und Vorgärten verrichten.
«Mursi muss wiederkehren!»
Die Protestierenden erklären bei jeder Gelegenheit, sie würden bleiben, bis Mursi wieder eingesetzt sei. Sogar wenn es sie das Leben koste. Tote hat es seit dem Umsturz in ganz Ägypten über dreihundert gegeben, vielleicht sind es bedeutend mehr. In Kairo alleine hat ihre Zahl zweihundert überschritten. Die Zahl der Verwundeten geht in die Tausende.
Die Dauerdemonstrationen haben unvermeidlich Folgen für die ohnehin schwer angeschlagene Wirtschaft des Landes. Solange Unruhe herrscht, kann man nicht hoffen, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Es muss im Gegenteil angenommen werden, dass sie noch weiter zurückgeht. Allerdings ist es der provisorischen Regierung von Ministerpräsident Beblaoui gelungen, grosse Geldsummen in Saudiarabien, Kuwait und den Arabischen Emiraten zu mobilisieren. Dies sind politische Gelder. Die dortigen Regierungen sind Gegner der Muslimbrüder, weil sie in ihnen eine Gefahr auch für ihre Regime sehen. Die Summen sollen total 12 Mia. Dollar betragen. Falls alle wirklich ausbezahlt werden, dürften sie genügen, um die nötigsten Löcher des Staatsdefizits zu stopfen – möglicherweise für die gesamte heute geplante Übergangszeit, die bis zum kommenden Jahr dauern soll.
Zuckerbrot und Peitsche
Dennoch ist klar, die neue Regierung muss dafür sorgen, dass die Dauerdemonstrationen so rasch wie möglich zu Ende gehen. Sie hat zwei Wege, um dies zu bewerkstelligen: Sie kann die Demonstranten mit ihren überlegenen militärischen Mitteln niederschlagen, oder sie kann sich mit ihnen versöhnen. Zunächst versucht sie beides. Sie bedroht die Demonstranten und verspricht ihnen gleichzeitig, wenn sie nach Hause gingen, werde all jenen, «die sich keine Verbrechen zuschulden kommen liessen, nichts geschehen». Die Politiker sagen sogar gelegentlich, die Muslimbrüder könnten auch künftig in der Politik mitreden. Sie würden nicht ausgeschlossen.
Allerdings bleiben viele der wichtigsten Anführer der Bruderschaft weiterhin gefangen. Gegen Hunderte liegen zudem Verhaftungsbefehle vor; doch sie halten sich unter den demonstrierenden Massen auf und konnten dort nicht verhaftet werden. Mursi selbst ist bereits unter Anklage gestellt. Gegen ihn läuft eine Untersuchung wegen Ausbruch aus dem Gefängnis und Mitverantwortung für den Tod von Gefängniswächtern und Gefangenen sowie «Verschwörung» mit Hamas, um diesen Gefängnisausbruch zu organisieren. All dies bezieht sich auf die offenbar teilweise gewaltsame Befreiung von führenden Persönlichkeiten der Brüder, darunter auch Mursi, aus der Präventivhaft, in die sie vom Mubarak-Regime genommen worden waren. Dies in den ersten Tagen der Revolution gegen Mubarak, die am 25. Januar 2011 begonnen hatte.
Prozess gegen den obersten Führer der Brüder
Gegen den «Führer» bzw. die höchste Autorität der Bruderschaft, Mohamed Badie, läuft bereits ein Prozess. Die Untersuchung gegen ihn ist offenbar abgeschlossen, die Gerichtsverhandlung soll am 25. August stattfinden. Die Anklage gegen ihn und verschiedene andere Inhaftierte sowie noch freie Verantwortliche der Bruderschaft lautet: Anstachelung zu Gewalt und Mitverantwortung für Todesopfer.
Die Bruderschaft weist diese Anschuldigungen empört zurück. Es handle sich einfach «um einen Versuch des Polizeistaates, die Bruderschaft zu zerstören» erklärte einer der Sprecher.
Man muss zugeben, die Anklagen dürften in der Tat politische Beweggründe haben. Die Militärs und «ihre» Regierung formulieren sie mit zwei vermutlichen Zielen: einerseits um Kritik aus dem In- und Ausland zu widerlegen, sie handelten ungesetzlich; andrerseits um zu versuchen, die gegenwärtige Führerschaft der Muslimbrüder von den Massen ihrer Gefolgsleute zu isolieren und womöglich eine neue Führerschaft der Brüder auf den Plan zu rufen, die bereit wäre, im Rahmen des Übergangsprojektes, das General as-Sissi aufgestellt hat, mit dem Übergangsregime zusammenzuarbeiten und sich an den versprochenen Wahlen zu beteiligen.
Der Nachteil dieser Anklagen und Prozesse liegt natürlich darin, dass sie die Empörung der Muslimbrüder weiter schüren und sie anregen, ihre Demonstrationen und Sit-ins fortzusetzen.
Warnende «Informationen»
Das Innenministerium hat schon in der vergangenen Woche angekündigt, dass es auf Weisung der Regierung dazu übergehen werde, die Sit-ins «zu räumen». Doch ein Termin wurde nicht genannt, und bisher ist es zu keinen grossangelegten Räumungsversuchen gekommen. Die beiden bisher blutigsten Zusammenstösse zwischen Sicherheitsleuten und Demonstranten in Kairo mit gegen fünfzig und gegen neunzig Todesopfern waren zustande gekommen, weil die Sicherheitsleute und die Armee gegen Versuche der Demonstranten vorgegangen waren, ihre Aktion über die bisherigen Sit-in-Gebiete hinweg auszudehnen.
Die jüngste Aktion der Sicherheitskräfte bestand darin, dass Helikopter über den Protestlagern Flugblätter abwarfen, in denen den Demonstranten einmal mehr Straffreiheit zugesagt wurde, «wenn sie keine Verbrechen begangen» hätten. Dies ist begleitet von öffentlich erwähnten «Plänen» des Innenministeriums, die Sit-ins künftig zu «isolieren» und den Demonstranten zu erlauben, die Plätze zu verlassen, aber nicht, auf sie zurückzukehren. Wobei nicht ausgesprochen wurde, was aber natürlich denkbar ist, dass die «Isolierung» auch die Unterbindung von Wasser- und Nahrungszufuhr bedeuten könnte. Auch in dieser Hinsicht wurde keine Zeitgrenze angegeben. Doch sickerte auch durch, as-Sissi erwarte, dass die Demonstrationen bis zum Grossen Fest am Ende des gegenwärtigen Ramadans zu Ende gingen. Dies wäre bereits am 8. August.
Zukunftsbestimmend
Der General selbst hat sich mit hohen Geistlichen getroffen, die eine Versöhnung zu erreichen versuchen, und hat ihnen versichert, «eine friedliche Lösung sei möglich, wenn alle Seiten auf Gewalt verzichteten». Doch diese Geistlichen wurden von den Demonstranten scharf dafür kritisiert, dass sie sich mit dem General getroffen hätten. Ihnen gilt er als «Verbrecher, der sich gegen die Legalität vergangen hat».
Wahrscheinlich sind sich alle Seiten der grossen Bedeutung der gegenwärtigen Kraftprobe bewusst. Wenn es zu einer blutigen Räumung der Protestlager kommen sollte, wird es wahrscheinlich ein schweres Massaker mit grossen Zahlen von Opfern geben. Dies würde die Bruderschaft nicht zerstören, aber einmal mehr tief in den Untergrund zwingen. Die Unruhen im ägyptischen Hinterland und in den ägyptischen Elendsquartieren, wo vielleicht achtzig Prozent aller Ägypter leben, würden schwerlich abbrechen. Dies wiederum würde die Wirtschaft noch weiter zerstören, und als Folge könnten Hungerrevolten und religiös gefärbte Aufstände ausbrechen.
Die Wirtschaftsmisere hat sich bei den Grossdemonstrationen gegen Mursi vom Beginn des vergangenen Monats zugunsten der Säkularisten und der Militärs ausgewirkt. Diesmal jedoch würde sie, wenn sie fortdauert und wächst, die Bevölkerungsmehrheit gegen die nun bestehende Regierung und deren militärisches Rückgrat mobilisieren. Derartige Zukunftsaussichten sind als eine echte Gefahr einzustufen, wenn es dieser Tage zu einem Massaker unter den Muslim-Brüdern kommt.
Aussöhnungsversuche von aussen
Dies ist auch den Beobachtern aus dem Ausland klar. Deshalb gibt es zurzeit grosse diplomatische Anstrengungen, das drohende Massaker zu abzuwenden und womöglich ein Gespräch zwischen den Brüdern und der Beblaoui-Regierung zustande zu bringen. Catherine Ashton, die EU-Aussenbeauftragte, hat diese Anstrengungen eingeleitet, und sie werden weiter verfolgt von ihrem Sondervertreter in Kairo. Auch ein Stellvertreter des amerikanischen Aussenministers ist beständig am Werk. Zwei amerikanische Senatoren von politischem Gewicht, John McCain und Lindsay Graham, sollen am Montagabend in Kairo eintreffen und versuchen, ihren Einfluss geltend zu machen. Dieser dürfte gegenüber den ägyptischen Offizieren von einigem Gewicht sein, jedoch schwerlich auf Seiten der Brüder, die sehr bitter über «die Amerikaner» urteilen.
Auf der Seite der Übergangsregierung gibt es Persönlichkeiten, die für eine Versöhnung eintreten und sogar die harte Haltung einiger der Militärs vorsichtig und leise kritisieren. Doch die Standpunkte liegen noch weit auseinander. Die Brüder und ihre Verbündeten fordern weiterhin, dass Mursi wieder eingesetzt und die unter ihm eingeführte Verfassung wieder in Kraft gesetzt werde. Manche fügen hinzu, as-Sissi müsse natürlich abtreten. Dies kommt für die Übergangsregierung und für die Armee nicht in Frage. Die Vermittler, die mit beiden Seiten sprechen, suchen nach einem Mittelweg zwischen solchen Extremen. Doch bisher hat sich ein solcher nicht abgezeichnet