160 Kunstwerke von 35 Künstlerinnen und Künstlern aus fast allen Kontinenten präsentiert das Aargauer Kunsthaus in Aarau in der Ausstellung „Maske – In der Kunst der Gegenwart“. Kunsthaus-Direktorin Madeleine Schuppli und Yasmin Afschar, Kuratorin, zeichnen verantwortlich für die breit gefächerte Schau, die Malerei, Zeichnung, Skulptur, Fotografie, Video, Performance und damit fast alle verfügbaren Medien zusammenführt. Entstanden sind die Werke seit den 1980er Jahren.
Die Kuratorinnen gingen nicht von Theorien über das Motiv der Maske aus, das ja nicht nur einen Gegenstand bezeichnet, den man sich aus Lust an der Veränderung oder als Schutz vors Gesicht hält, sondern auch hineingreift in weite Bereiche der Psychologie, der Tiefenpsychologie, der Soziologie und der Gesellschaftstheorie und suchten dann in der Gegenwartskunst nach entsprechenden Beispielen. Vielmehr stellten sie aus ihrem Erfahrungsschatz im Umgang mit Gegenwartskunst Werke zusammen, die einen farbigen und spannenden Ausstellungs-Parcours ergeben und zugleich auch Beispiele liefern für den vielseitigen und ganz unterschiedlich motivierten Umgang heutiger Kunst mit dem Thema Maske.
Das Ergebnis ist ein mit Bedacht konzipierter, aber doch spontaner Ausstellungs-Essay mit vielen prominenten Künstlerinnen und Künstlern. Spontan wirkt die Ausstellung insofern, als die Entscheide für diesen oder jenen Künstler nicht immer ganz schlüssig zu begründen sind. Mit andern Worten: Die Kuratorinnen stehen zu ihrem persönlichen „Bauchgefühl“ und nehmen zu Recht in Kauf, dass sich manche Namen durch andere ersetzen liessen. Die Frische, die Farbigkeit und die Vielseitigkeit der Ausstellung geben ihnen Recht.
Sich ein anderes Gesicht geben
Relevant ist das Thema Maske heute zweifellos, nicht etwa, weil volkstümliches Brauchtum auf mehr Resonanz stösst als auch schon. Fasst man den Begriff der Maske weit und blickt man über traditionelle (Fasnachts)-Masken, die in der Ausstellung ohnehin keine Rolle spielen, hinaus, so sind in der modernen Gesellschaft tatsächlich vielerlei Masken-Aspekte virulent. Gemeint ist der Wille, ein anderer und eine andere zu sein und sich ein anderes als das eigene Gesicht zu geben, sich also mittels Masken – nun auch metaphorisch gefasst – zu verstellen, reale oder vermeintliche Makel zu übertünchen oder der eigenen Existenz einen neuen, vielleicht auch falschen Schein zu geben.
Dazu braucht man sich keine reale Maske aufzusetzen. Geringfügige Retuschen können die eigene Identität bereits verändern. Auch Rollenspiele – wer schon bedient sich ihrer nicht? – sind Masken. Und fiktive Biographien lassen sich im Netz leicht als Realität verbreiten, wie denn überhaupt die Digitalisierung der Verschleierung und Veränderung der Identität zahlreiche Wege öffnet. Diese Masken können das Eigene, das man nicht blossstellen will, vor fremden Blicken in die eigene Seele schützen wie Schutzmasken vor Giftgas. Masken können ihren Trägern zu Macht und Ansehen verhelfen. Masken kaschieren böses Tun, vielleicht, aus Bescheidenheit, auch gutes. Allerdings: Die Gefahr der Demaskierung ist stets nahe.
Spiel und Ernst
Wenn sich die Kunst der Gegenwart dem Thema Maske annähert, geschieht das selten gradlinig und eindeutig, und so stossen wir in Aarau auch kaum auf Masken, die man sich tatsächlich vors Gesicht halten könnte. Ambivalenz, Mehr- und Vieldeutigkeiten sind auch in diesem Zusammenhang ein Kriterium für künstlerische Qualität. Dazu gehört: Spiel und Ernst kommen sich, gerade wenn es um Masken, um Verstellung und Wechsel der Identität geht, oft auf irritierende Weise nahe.
Ein Beispiel sind die Arbeiten der Engländerin und Turner-Prize-Trägerin Gillian Wearig (*1963), die sich in einem grossformatigen Foto „Self Portrait as My Mother“ präsentiert: Sie fertige eine Maske an, die präzis dem Bild der Mutter als Mädchen der 1950er Jahre entsprach und zog sich fürs fotografische Selbstporträt diese Maske, welche die Augen frei liess, übers Gesicht.
Ein ähnliches Spiel spielt sie mit Porträts ihrer „künstlerischen Familie“ – von Mapplethorpe, von Diana Arbus, von August Sander. Mit dem Mittel der Maske sucht Gillian Wearing in ihrem familiären und künstlerischen Umfeld nach den Wurzeln ihrer eigenen Identität.
Ein anderes Beispiel ist die Serie „Acts of Appearance“ des 1970 in Indien geborenen Gauri Gill. Er fragte die Bewohnerinnen und Bewohner eines Dorfes, in dem Masken-Spiele mythologischen Inhalts eine grosse Rolle spielen, nach ihren Wünschen und Träumen, liess sie entsprechende Masken herstellen und mit diesen Masken vor ihrem Gesicht diese Träume und Zukunftshoffnungen spielen. So entstand die Gemeinschaftsarbeit eines Dorfes, die von spielerischen Lebensformen geprägt ist und zugleich Einblick gibt in die existenziellen Hoffnungen und Ängste, die das Dasein dieser Menschen prägen.
Abgründiges
Auch in den Werken der Serie „Oikonomos“ von Edson Chagas (*1977 in Luanda/Angola) verbinden sich Spiel und Ernst: Die Fotos zeigen Menschen mit einem Plastiksack über ihrem Kopf.
Die Bilder wirken auf den ersten Blick wie Maskeraden; sie haben etwas Clowneskes. Sie rufen aber auch nach Fragen: Welche Existenz verbirgt sich unter diesen Tüten? Welche Bewandtnis hat es mit den aufgedruckten Logos von Firmen oder von Werbebotschaften für Grosswild-Safaris in Afrika? Was an Gefühlen oder Utopien weckt der Plastiksack mit dem Porträt Obamas, des ersten schwarzen US-Präsidenten, im schwarzafrikanischen Land Angola? Das andere Ende der Skala signalisiert Angst: Die gezeigte Situation lässt unweigerlich an Fotos von Geiselnahmen, an Terror und Gewalt denken.
Nicht mehr nur um Angst, sondern um erschreckend Abgründiges geht es in den Werken des Franzosen Kader Attia (*1970). Er stellt Bildern afrikanischer Masken Fotoaufnahmen gegenüber, die versehrte Gesichter von Soldaten des Ersten Weltkrieges zeigen: Die Ästhetik des Archaischen steht unmittelbar neben der grausamen Realität von Kriegsfolgen, die sich damals noch nicht mit plastisch-chirurgischen Massnahmen korrigieren liessen. Attia lenkt unser Denken aber weiter in Bereiche, die er nicht visualisiert: Wer stellt angesichts dieser Bildkombinationen nicht Überlegungen zum aktuellen Gebrauch von plastischer oder eben Schönheits-Chirurgie an, die sich mit kostspieliger Akribie der meist bloss eingebildeten kleinen Unschönheiten annimmt – und am Ende eben doch nur ein unpersönliches Maskengesicht generiert.
Altmeisterliches
Das sind einige Beispiele aus dem reichen Angebot der Ausstellung. Ich lasse einige weitere Hinweise – als Illustration der Bandbreite des Unternehmens – folgen.
Der 1973 geborene Österreicher Markus Schälwald ist als Maler buchstäblich ein virtuoser Alter Meister. Er beschaffte sich auf Auktionen und im Kunstmarkt im 19. Jahrhundert entstandene Porträts anonymer Maler und griff subtil in die minutiös und mit Sorgfalt gemalten Gesichter ein: Er verpasste ihnen absurd wirkende Prothesen, Spangen, Masken oder Maskenteile, als wolle er die Gesichter korrigierend verändern – im Wissen wohl, dass das Bemühen dieser Maskerade sinn- und erfolglos bleiben muss. Wie ein virtuoser Altmeister geht auch der Schweizer Francisco Sierra (geboren 1977) vor, wenn er zwei Gasmasken mit allen Lichteffekten so ins Bild setzt, als handle es sich um ein altniederländisches Stillleben.
Komplexes und Einfaches
Alle Register der multimedialen Installation zieht der Brite Simon Stärling (*1967), der für die Installation „Project for a Masquerade (Hieroshima)“ dem japanischen Nō-Theater entlehnte Masken zeichnete, sie von professionellen japanischen Maskenschnitzern herstellen liess und sie so in einem abgedunkelten Raum vor Spiegeln präsentiert, dass wir uns selber als Teil der Installation sehen. Damit nicht genug der kaum mehr nachvollziehbaren Winkelzüge: Starling drehte dazu einen Film, der die Maskenschnitzer bei der Arbeit zeigt und erst noch eine abenteuerliche Brücke schlägt zu Henry Moores Skulptur „Nuclear Energy“ in Chicago.
Humor und hintergründiger Witz
Todernst muss nicht vorherrschen, wenn sich die Gegenwartskunst des Themas Maske annimmt. Die beiden Schweizer Silva Bächli und Erich Hatten (beide 1956 geboren) setzen in ihrer grossen Gemeinschaftsarbeit auf freien und doch hinterhältigen Humor: Sie montieren auf einer grossen Holztäferwand 17 aus alltäglichem (Abfall-)Material gebastelte Objekte. Sie sind mit einfachsten Mitteln so verfremdet, dass wir sie als Masken wahrnehmen – oder als ironische Begleitung des eben doch sehr hintergründigen Ausstellungsthemas. Doch auch dieses Hintergründige schlägt durch, wenn uns diese oder jene Detailform plötzlich an Spuren von Folter und Gewalt denken lässt.
Richtig drollig wird’s im Video der 1966 geborenen Amerikanerin Elodie Pong, die eine Tänzerin in ein Panda-Kostüm steckt und – verkleidet in den unförmigen und harmlos wirkenden weiss-schwarzen Bären – einen lasziven erotischen Poledance tanzen lässt. Die Überraschung ist gross, wenn sich am Ende eine androgyn wirkende junge Frau mit Kurzhaar-Frisur aus dem Kostüm schält und mit dem endlos hergesagten Satz „I am a bomb“ auf den Doppelsinn des Wortes Bombe – hier Sexbombe, dort Sprengkörper – anspielt: Eine Maskerade über Bilder weiblicher Identität.
An der Ausstellung sind u. a. noch folgende Künstlerinnen und Künstler vertreten: Sabian Baumann, Olaf Breuning, Cecilia Edefalk, Douglas Gordon, Aneta Grzeszykowaska, Christoph Hefti, Christian Marclay, Ugo Rondinone, Cindy Sherman, John Stezaker, Rosemarie Trockel, Pedro Wirz, Susanne Weirich.
Aargauer Kunsthaus Aarau. Bis 5. Januar. Katalog 49 Franken (Scheidegger & Spiess).