Zur Zeit meiner Wanderung aus dem Sihltal zur einstigen Burg Manegg und der Falätsche entlang zum Albisgrat gab es in der Ukraine noch keinen Krieg. Unterdessen ist die Welt verändert. Darf man in diesen Zeiten trotzdem noch über Poesie schreiben, über die Manessische Liederhandschrift zum Beispiel und über Gottfried Kellers Zürcher Novellen? – Man darf, ja man muss.
Als ich, vom Aufstieg ausser Atem, an der felsigen Flanke den mittels Gerüststangen gebauten Weg erblicke, kommt mir «Der Narr auf Manegg» in den Sinn, auch Buz Falätscher genannt, «weil er in einer alten Lehmhütte unten an der Falätsche hauste», wie ihn Gottfried Keller in den Zürcher Novellen beschreibt (1). Jener von Keller fantasievoll gezeichneten dürren Gestalt, welche ein aus Fischotterfellen zusammengenähtes Gewand trug, wird die Fantasie des Dichters später die heroische Rolle zuteil werden lassen, das Manessische Liederbuch aus der brennenden Burg Manegg zu retten. Abgebrannt ist die Burg tatsächlich anno 1409, aber die Handschrift befand sich damals wahrscheinlich nicht mehr in Zürich. Doch davon später; meine Gedanken eilen dem geplanten Weg voraus.
Hier hätte sie stehen können, die Lehmhütte, denke ich, oder auch weiter unten in der Schlucht. Allerdings wird die schäbige Behausung des Falätscher nicht so stabil, ja gut bürgerlich ausgesehen haben wie die Clubhütte des Alpenclubs Felsenkammer, die ich nach Überquerung des luftigen Steges hinter einer Geländekante im stotzigen Abhang erreiche.
Vor einer guten halben Stunde bin ich mit der Sihltalbahn im Bahnhof Leimbach angekommen, einige hundert Meter auf der Leimbachstrasse aufwärts gegangen und dann rechts auf einer Treppe und einem schmalen, glitschigen Weg am Friedhof Leimbach vorbei ins enge Tobel des Rütschlibaches gewandert. Nach wenigen Schritten wähnt man sich hier in einer andern Welt.
Wo der Weg den Bach überquert, sollte gemäss meiner Karte ein steiler Pfad entlang des Baches direkt ins Herz der Falätsche und weiter zur Felsenkammer führen. Doch man heisst nicht zufällig «Rütschlibach»: Aufgeweicht vom Schnee, der hier erst vor kurzem weggeschmolzen sein muss, hat sich der Weg entlang des steilen Bachbords in eine Rutschbahn verwandelt. Eingedenk all jener Wanderer, welche sporadisch – man liest es dann in den Zeitungen – durch die Feuerwehr oder mit Helikoptern irgendwo aus den Abhängen des Albis gerettet werden müssen, kehre ich – obschon mir das Umkehren im Leben immer schwer gefallen ist – nach den ersten Metern um, nehme ein kurzes Stück den Wanderweg Richtung Ankenweid und folge dann dem schmalen, aber trockenen Gratweg nordwestwärts hinauf zu jener Stelle, von wo man über den erwähnten Steg die Felsenkammer von oben her erreichen kann.
Später wandere ich entlang der Höhenlinien nordostwärts zu einem kleinen Sattel, der durch einen Höcker im vom Albis herabfallenden Grat gebildet wird. Ein Tannenhäher fliegt, einen lauten Warnruf ausstossend, vom Boden auf und verschwindet zwischen den Ästen einer Fichte. Vor einem Felsen steht ein kleiner leerer Brunnentrog, in den ein paar Wassertropfen fallen, dahinter eine Tafel aus dem Jahre 1906, welche die Aufschrift trägt:
«Dem Andenken Ritters Rüdiger Manesse auf Manegg, dem Freunde der Minnesänger und der Horte des Rechts in Rath und That. Er starb MCCCIV. Sein Enkel siegte in Daetwil.» – Man könnte fast meinen, die Stifter jener Tafel seien nicht überzeugt gewesen, dass der Name Rüdiger Manesse zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch Gewicht genug haben würde, also verknüpften sie ihn zur Sicherheit mit dessen Enkel, ebenfalls ein Rüdiger.
Ehrlich gesagt, ich musste erst nachschauen, was es mit der Schlacht von Dättwil (einem Dorf bei Baden am westlichen Ausgang des Baregg-Autobahntunnels) auf sich hatte: Sie fand am 26. Dezember 1351 – Grossvater Rüdiger war schon 47 Jahre tot – zwischen den Habsburgern und den Zürchern statt, nachdem sich Letztere durch die Plünderung der Dörfer Gebenstorf und Birmenstorf «hervorgetan» hatten. Ein randalierender Mob also, würde man heute sagen. Dem Enkel Rüdiger gelang es offenbar danach, die Zürcher vor den begreiflicherweise erbosten Habsburgern, die heute Aargauer heissen würden, über den Heitersberg ins Limmattal in Sicherheit zu bringen.
Soviel über Grossvater und Enkel. In der heutigen Cancel-Kultur müsste man den Enkel auf der Gedenktafel eigentlich eliminieren (Tatsächlich hoffe ich natürlich, wir würden so viel Geschichte aushalten können!). Umso wichtiger die Tat des Grossvaters! – Ein unter dem Laub fast nicht mehr erkennbarer Weg führt die wenigen Meter hinauf zum Hügel, auf dem einst die Burg Manegg gestanden hatte, der Stammsitz der Zürcher Kaufmannsfamilie Manesse, welche dank ihres unter Rüdiger I (1224–1253) erworbenen Reichtums in den Ritterstand erhoben worden war. Die Gedenktafel beim Brunnen ist Rüdiger II (1252–1304) gewidmet; er und sein Sohn Johannes, Schatzmeister am Zürcher Chorherrenstift, gaben um das Jahr 1300 die Schaffung einer Sammlung mittelhochdeutscher Lieder in Auftrag, welche als Manessische Handschrift oder – wegen ihres heutigen Aufbewahrungsortes – als «Grosse Heidelberger Liederhandschrift» bekannt ist.
Die Familie Manesse und ihre Burg auf einer Seitenrippe des Albis haben mich seit meiner Jugend fasziniert. Zu meiner Konfirmation hatte mir damals mein Götti die Gesammelten Werke von Gottfried Keller geschenkt. Sie stehen noch immer, die grünen Lederrücken vom Alter abgenützt wie meine eigene Haut, in meiner Bibliothek. Keller hat der Familie Manesse und ihrer Burg Manegg in den Zürcher Novellen zwei Geschichten gewidmet, neben der bereits erwähnten «Der Narr auf Manegg» die Geschichte «Hadlaub» (2).
Es sollten Jahrzehnte vergehen, bis ich dann vor ca. zwanzig Jahren erstmals auf dem ehemaligen Burghügel stand. Doch wie meistens kann die Wirklichkeit gegenüber der Fantasie der Jugend nur enttäuschen: Ich fand einen ganz normalen Platz, von Bäumen umgeben, dem auch der verwitterte Gedenkstein für Gottfried Keller keinen besonderen Glanz zu geben vermochte. Nur die Aussicht auf Stadt und See war beeindruckend.
Und jetzt stehe ich wieder hier, älter geworden und dadurch weniger abhängig von Äusserlichkeiten, weil man im Alter die Welt immer stärker in seinem Inneren trägt, wo sie sich der Zersetzung durch die Zeit entzieht. Eben verkünden die Glocken der Kirche Leimbach, als ob sie noch immer die Bauern vom Felde rufen müssten, dass es Mittag geworden ist.
In Gedanken sehe ich Kellers jungen Herrn Jacques, der sich vorgenommen hat, ein Original zu werden, die Schule schwänzend ziellos durch die Gegend ziehen, bis er auf der Wollishofer Allmend zufällig seinen Paten trifft, der dort zusammen mit in die Jahre gekommenen Freunden mit Mörserkanonen Schiessübungen macht. Der Patenonkel spürt intuitiv die unsichere Suche des Jünglings nach dem richtigen Leben, lädt ihn zum Mittagessen mit seinen Zunftgenossen ein und wandert anschliessend mit ihm hinauf in den Wald zum einstiegen Burghügel der Manegg. (Nebenbei: auch hier ein Götti, der wichtige Anstösse fürs Leben gibt!)
Auf dem Rückweg erzählt der Pate seinem Schützling die Geschichte von Johannes Hadlaub, dem Bauernsohn vom Wildbach am Zürichberg, welcher dank einer glücklichen Fügung im Zürcher Chorherrenstift zum Lateiner und Schreiberling ausgebildet wird und dann von Rüdiger Manesse und seinem Sohn Johannes mit der Erstellung einer Liedersammlung beauftrag wird.
Schön hat er es sich ausgedacht, der grosse «Göpf»! – Tatsächlich finden sich in der Liedersammlung, welche nach einzelnen Dichtern gegliedert ist – das Werk von Walther von der Vogelweide ist das umfangreichste –, auch Gedichte eines gewissen Johannes Hadlaub aus Zürich, welche nicht nur die Liebe zum Thema haben, sondern auch sehr volksverbundene, ja geradezu derbe Lieder einschliessen. Daher hat Keller den Sänger Hadlaub kurzerhand zum Bauernsohn gemacht.
Damit dieser aber auch zu schmachtenden Minnegesängen animiert würde, musste eine entsprechende Liebesgeschichte her, was für Kellers Fantasie kein Hindernis bedeutete. Im Gegenteil: Hadlaubs Angebetete mit Namen Fides wird bei Keller zum «Kind der Liebe» zwischen der schönen Kunigunde auf Schwarz-Wasserstelz (einem ehemaligen Wasserschlösschen im Rhein unterhalb des Städtchens Kaiserstuhl) und dem Kaiserkanzler Heinrich von Klingenberg, dem späteren Bischof von Konstanz.
Als das Mädchen Fides sieben oder acht Jahre alt ist, gibt es seine Mutter in die Obhut von Rüdiger Manesse und wird selber «durch den Einfluss eben desselben Bischofs Heinrich zur Fürstäbtissin gewählt». Nun braucht es nur noch eine Begegnung zwischen dem jungen Mädchen und dem Bauernsohn Johannes, den Fides selbstverständlich vorerst als «Bauerntölpel» sieht und ignoriert, aber doch heimlich zu lieben beginnt, ferner einen klugen Mentor, welcher Johannes das Lesen, Schreiben und Malen sowie die lateinische Sprache beibringt, und schon kann das Schicksal seinen vorbestimmten Lauf nehmen. Damit aber aus der Feder von Hadlaub genug schmachtende Liebeslieder entstehen, muss Fides ihren Johannes noch einige Jahre zappeln lassen, bis es dann endlich soweit ist und sich die beiden in die Arme fallen dürfen.
Fides und Johannes begleiten mich, als ich später auf dem steilen Weg entlang dem Rand der Falätsche zum Albisgrat gehe, einen kleinen Umweg zur «Teehütte» des «Alpenclubs zur steilen Wand» (3) mache und mich – nach meinem ganz privaten Abstecher in die Geschichte – auf dem Grat plötzlich und fast schockierend von Duzenden Wanderern umringt sehe, welche vom Üetliberg zur Felseneggbahn unterwegs sind. Ich beschliesse dem Strom entgegenzuschwimmen und wandere zur Station Uto Kulm, trinke im Restaurant Gmüetliberg noch einen Kaffee, bevor ich mich zusammen mit vielen andern, Familien mit Kindern, Pensionierten – allein oder in Jahrzehnte alter Zweisamkeit –, Liebespaaren, in die Üetlibergbahn zwänge.
Liebespaare: Ob man sich heute auch noch Liebesgedichte schreibt? – Welch poetische Kraft liegt doch in der unerfüllten Liebe! Keller, der ewige Junggeselle, Schöpfer unzähliger Liebender, glücklicher und glückloser, musste es aus erster Hand erfahren haben!
Dô sach sî mich lieblîch an und rete mit mir.
Die wîle lâgen mîn arme ûf ir schôz:
mîn fröide nie mêr wart so grôz.
«Dann blickte sie mich liebevoll an und sprach mit mir.
Derweilen ruhten meine Arme auf ihrem Schoss:
Nicht noch einmal erfuhr ich so grosse Freude.»
(Johannes Hadlaub)
(1) Gottfried Keller: Zürcher Novellen, «Der Narr auf Manegg», Gesammelte Werke Bd. 6, Rascher Verlag Zürich, 1948
(2) Gottfried Keller: Zürcher Novellen, «Hadlaub», Gesammelte Werke Bd. 6, Rascher Verlag Zürich, 1948
(3) Wer sich für die Geschichte der vielen Hütten in der Falätsche und anderswo am Üetliberg interessiert, der sei auf den vielseitigen Bildband von Stefan Schneiter «Der Uetliberg» (hier+jetzt Verlag, Baden, 2011) hingewiesen.