Am vergangenen Wochenende sind in Minsk und anderen Städten von Belarus erneut Tausende von Menschen auf die Strasse gegangen und haben mit weiss-roten Fahnen friedlich gegen den repressiven Machthaber Lukaschenko demonstriert. Es war das 15. Wochenende hintereinander, dass solche Manifestationen gegen die offenkundig gefälschten Wahlen vom 9. August in dem osteuropäischen Land mit seinen rund zehn Millionen Einwohnern stattgefunden haben. Der Langzeitherrscher Lukaschenko, der seit 26 Jahren regiert, behauptet, dass bei der Präsidentenwahl 80 Prozent der Wähler für ihn gestimmt hätten.
Abnehmende Aufmerksamkeit
In der Empörung über dieses nach sowjetischer Machart manipulierte Wahlergebnis haben an den ersten Wochenenden im August jeweils Hunderttausende von Bürgern an den friedlichen Protestzügen in belarussischen Städten teilgenommen. Inzwischen sind die Zahlen der Teilnehmenden kleiner geworden – was offenkundig mit der anhaltenden Gewalt seitens der hochgerüsteten und teilweise vermummten Polizeikräfte zu tun hat, die jedes Wochenende Hunderte von Demonstranten festnehmen und ins Gefängnis werfen. Angst und Resignation zu verbreiten, gehört zweifellos mit zum Kalkül der Lukaschenko-Diktatur.
Umso bewundernswerter bleibt der Durchhaltewille jener – hauptsächlich von Frauen angeführten – Bürger, die sich trotz aller Risiken nicht davon abhalten lassen, jedes Wochenende aufs Neue auf die Strasse zu gehen und ihrem Protest gegen einen skrupellosen Machthaber mutigen Ausdruck zu geben. In den internationalen Medien ist das Belarus-Thema inzwischen in den Hintergrund gerückt.
Das hat mit den Mechanismen und Marktgesetzen des Mediengeschäfts zu tun, die wiederum stark vom Bedürfnis des Publikums nach spannenden Neuigkeiten und Nervenkitzel beeinflusst werden. Wenn jedes Wochenende ähnliche Bilder aus Minsk von friedlich marschierenden Demonstranten und räuberhaft vermummten Polizeitrupps, die Frauen und Männer herausgreifen und in bereitstehende Camions bugsieren, über die Mattscheibe flimmern, so löst das kaum vermeidbar einen gewissen Déja-vu-Effekt aus. Man kann nichts Neues erkennen und neigt dazu, mit einem Achselzucken zu reagieren.
Frauen als führende Stimmen
Dass die führenden Stimmen der belarussischen Widerstandsbewegung in ihren Stellungnahmen eine teilweise Enttäuschung über die nachlassende Aufmerksamkeit für ihren Kampf gegen die Lukaschenko-Tyrannei nicht ganz verhehlen können, ist begreiflich. Es sind fast ausschliesslich Frauen, die die Möglichkeit haben, für die Anliegen der belarussischen Opposition im Ausland noch Gehör zu finden. Ihre Männer sind im Gefängnis und sie selber mussten ins Ausland flüchten, um vom Regime nicht ebenfalls mundtot gemacht zu werden.
Zu den inzwischen bekanntesten Gesichtern und Stimmen der Widerstandsbewegung gehört Swetlana Tichanowskaja. Ihr Mann, Sergei Tichanowski, hatte ursprünglich für die Präsidentenwahl im August kandidiert, war dann aber umgehend verhaftet worden. Zum Ersatz hatte Frau Tichanowskaja die Kandidatur angemeldet. Nach Ansicht der Opposition hat sie im August auch am meisten Stimmen bekommen, was aber vom Lukaschenko-Regime vertuscht worden sei.
Die Terror-Methoden der Ordnungskräfte
Die Frau flüchtete kurz nach dem Wahlgang ins benachbarte Litauen und reist von da aus unermüdlich in die Hauptstädte Europas und der Welt, um Druck gegen Lukaschenko zu mobilisieren. Ihre Bemühungen waren nicht ohne Erfolg. Die EU, die USA und eine Reihe anderer Staaten haben verschiedene Sanktionen gegen den Minsker Diktator und seine Entourage verhängt – was vom Kreml und seinen Apologeten als schwere Einmischung in ein unabhängiges Land kritisiert wird.
Nun hat Swetlana Tichanowskaja dieser Tage dazu aufgefordert, dass die Polizeieinheiten des belarussischen Innenministeriums, zu denen auch die Sonderpolizei OMON gehört (eine Einheit gleichen Namens kommt auch gegen Demonstranten in Russland zum Einsatz), zu Terrororganisationen erklärt werden sollten. Ob diese Forderung etwa bei der EU Gehör finden wird, scheint zweifelhaft. Doch man sollte eine derartige Massnahme zumindest näher prüfen. Wer auf einer internationalen Terrorliste steht, muss mit höchst unbequemen Konsequenzen rechnen – man ist vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen und muss, wenn man sich im Ausland befindet, in vielen Ländern mit einer Verhaftung rechnen.
Im Internet stösst man auf Bilder, die eine Ahnung von der terroristischen Brutalität vermitteln, mit der die vermummten Lukaschenko-Schergen die völlig gewaltfrei demonstrierende Opposition in Belarus einkreisen, zusammenprügeln und wegschleppen.
Stellungnahme der Nobelpreisträgerin Alexijewitsch
Über diesen Terror hat auch die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in einem Interview mit dem «Spiegel» gesprochen, das am Wochenende veröffentlicht worden ist. Frau Alexijewitsch ist die bekannteste Figur im Koordinatsrat, der nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen vom August die Protestbewegung nach aussen repräsentierte. Alle Mitglieder dieses Gremiums sind inzwischen verhaftet oder mussten ins Ausland fliehen. Wegen einer Nervenkrankheit im Gesicht hat im September auch Swetlana Alexijewitsch das Land verlassen, um sich in Deutschland ärztlich behandeln zu lassen.
Die 72-jährige Schriftstellerin, die 2015 für ihre Gesprächs-Collagen über die sowjetische und postsowjetische Gesellschaftsrealität mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, hält in dem Spiegel-Interview fest, dass nach ihren Informationen seit Anfang August um die 27’000 Menschen in ihrem Land für längere oder kürzere Zeit verhaftet wurden. «Ganz Minsk ist voller maskierter Spezialkräfte, die willkürlich Leute kontrollieren und verhaften», erklärt sie in dem Gespräch. Die Schlägertrupps, die auf Demonstranten einprügeln und sie festnehmen, seien junge Männer, denen das Regime einen Job verschaffe und sie mit Waffen und einem Freibrief zur Gewalt ausstatte. Ihre frühere Vermutung, dass sich unter diesen vermummten Polizisten auch Sicherheitskräfte aus Russland befinden, kann Frau Alexijewitsch indessen nicht bestätigen.
Die Frage, ob sie im Falle eines Sturzes oder einer wie immer gearteten Ablösung Lukaschenkos bereit wäre, die Rolle einer Übergangspräsidentin in Belarus zu übernehmen, will die Nobelpreisträgerin nicht bejahen. Sie sei Schriftstellerin und keine Politikerin, erklärt sie. Für die Politik brauche es andere Fähigkeiten, die sie nicht habe.
Aber sie glaubt auch nicht daran, dass Lukaschenko sich noch unbefristet an der Macht halten kann. «Seine Zeit ist abgelaufen.» Aber seine Absetzung werde nur gelingen, «wenn die Weltgemeinschaft uns zu Hilfe kommt». Swetlana Alexijewitsch plädiert deshalb dafür, die bereits verhängten Sanktionsmassnahmen gegen das Minsker Regime zu verschärfen. Die EU hat Schritte in diese Richtung in Aussicht gestellt. Wie lange das Durchhaltevermögen der Opposition gegen die Terrormethoden der Lukaschenko-Schergen noch ausreicht, dürfte auch von der Aufmerksamkeit abhängen, die die Öffentlichkeit und die Politiker im Westen dem tragischen Geschehen in Belarus entgegenbringen.
Entscheidend aber für das Schicksal Lukaschenkos ist die Frage, wie lange noch und unter welchen Bedingungen der Machthaber in Moskau seine schützende Hand über den benachbarten Tyrannen in Minsk halten wird.