„Salvini ist angeschlagen, doch er ist nicht zu Boden gegangen. Im Gegenteil.“ Das sagt der italienische Journalist Lorenz Gallmetzer im Gespräch mit Journal21.ch. Der aus dem Südtirol stammende Radio- und Fernsehmann war lange Jahre Korrespondent für den ORF, den Österreichischen Rundfunk, in Washington und Paris. Anschliessend arbeitete er in Wien für das ORF-Weltjournal und war Sendungschef des „Club 2“. Er gehört zu den besten Italien-Kennern. Jetzt hat er ein aufsehenerregendes Buch mit dem Titel „Von Mussolini zu Salvini“ publiziert *). Wir trafen Gallmetzer in Wien.
Journal21: Lorenz Gallmetzer, wie lange wird die neue italienische Regierung überleben?
Lorenz Gallmetzer: Diese Regierung zwischen Sozialdemokraten und Fünf Sternen ist widersprüchlich und zerbrechlich. Das ist die grösste Chance für Salvini. Die neue Führung der EU hat jetzt eine grosse Verantwortung. Sie muss jetzt der Regierung in Rom kräftig unter die Arme greifen und sie bei der Aufnahme von Flüchtlingen unterstützen. Zudem muss sie ihr mehr Flexibilität bei Budgetfragen und in der Investitionspolitik gewähren. Tut sie das nicht, steht Salvini nächsten Sommer gestärkt vor der Tür. Salvini lauert.
Sehen Sie Anzeichen, dass die EU das verstanden hat?
Ja, in Brüssel, Berlin und Paris hat man verstanden. Emmanuel Macron besuchte vorletzte Woche Rom. Das ist ein starkes Signal. Während Salvini an der Macht war, wäre ein solcher Besuch undenkbar gewesen, denn die Beziehungen zwischen Rom und Paris waren sehr belastet. Zudem hat der deutsche Innenminister Horst Seehofer eine überraschende Kehrtwende vollzogen. Bis vor kurzem war er ein radikaler Verfechter geschlossener Grenzen. Jetzt kündigte er die Aufnahme von Flüchtlingen an. Wichtiger noch: Er sagte, das sei nur ein erster Schritt. Die Einsicht, dass man Italien rasch helfen muss, scheint sich durchzusetzen.
Die Zeit drängt
Die Frage ist jetzt, ob die EU wirklich zügig handelt. Salvini mobilisiert massiv und viel radikaler als bisher. Er hat eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg.
Wie charakterisieren Sie Salvini?
Er ist in erster Linie ein Chamäleon. Mit viel Geschick und einer guten Nase hat er immer Stimmungen im Volk erkannt. Er begann ja als Linker. Zwei Jahre lang war er Stammgast des berühmten Mailänder Centro Sociale, ein Ort, wo Anarcho-Linke, Alternative und Hausbesetzer zirkulierten. Später gründete er eine Wahlliste mit dem Namen „Padanische Kommunisten“, die mit Hammer-und-Sichel-Symbolen warb. Schnell wurde er Abgeordneter im Gemeinderat von Mailand. Wie sein Ziehvater Umberto Bossi vertrat er eine völkisch-identitäre Politik des Nordens. Man kämpfte für eine sehr grosszügige Autonomie für Norditalien oder sogar für eine Sezession des Nordens vom übrigen Italien. Bei den Parlamentswahlen 2013 erreichte die Lega aber nur 4,09 Prozent der Stimmen.
Wie gelang es Salvini, die damals schwache Lega zur stärksten italienischen Partei zu machen?
Noch vor sechs Jahren stand die Lega fast vor dem Zusammenbruch. Umberto Bossi hatte einen Schlaganfall und einen Herzinfarkt. Vor allem aber hatte er staatliche Wahlgelder für private Zwecke, für seinen Sohn und seine Geliebte, abgezweigt. Das stürzte die Partei in eine schwere Krise.
Salvini vollzog dann eine Radikalwende. Er beschloss, dass angesichts der internationalen Entwicklung, nicht mehr die Süditaliener das Hauptproblem sind, sondern die Souveränität und der Zusammenhalt der Nation. Er sagte: „Mein Vorbild ist meine beste Freundin Marine Le Pen, mein Idol ist Wladimir Putin und mein bester Verbündeter in Fragen der Migrationspolitik ist Victor Orbán.“ Damit entstand die neue Lega, „La Lega di Salvini“.
Das Volk wird mythisch verherrlicht als homogenes Gebilde, das nur durch Ausschluss der anderen überhaupt eine Definition erfahren hat. Diese Politik wurde nun vom Norden auf ganz Italien übertragen. Dazu kommt, dass er immer wieder, wie Marine Le Pen, die EU und den Euro als Sündenböcke hinstellt. Mit dieser Linie hat die Lega einen Höhenflug sondergleichen hingelegt. Sie profitierte auch von der grossen Immigrationskrise von 2015/2016.
Wie stark ist das Rechtsaussenelement bei Salvini?
Bei Grosskundgebungen gegen die frühere Regierung kam es vor, dass zuerst Salvini geredet hat und anschliessend Leute von „Forza Nuova“ und „Casa Pound“, den beiden neofaschistischen Organisationen. Diese sind im Ausland vollkommen unterbewertet und werden deshalb nicht zur Kenntnis genommen. Forza Nuova ist die traditionsreiche faschistische Rechte, die internationale Verbindungen ins schwarze rechtsradikale Netz hat – mit starken Beziehungen zu Kriminalität, Waffenhandel, Drogenhandel, Hooligans, Ticketschwindel usw. Das ist ein Sumpf neofaschistischer Ideologie und Kriminalität mit Mafia-Bezügen. Casa Pound ist die modernere, jüngere Variante mit insgesamt etwa 30’000 Aktivisten und Anhängern. Bei den Wahlen haben Forza Nuova und Casa Pound zur Unterstützung Salvinis aufgerufen. Bei den Europa-Wahlen haben Analysen gezeigt, dass der enorme Stimmenzuwachs der Lega auch den vielen Stimmen der Neofaschisten zu verdanken ist.
Wie verhält sich Salvini den Neofaschisten gegenüber?
Er selbst sucht nicht die Distanz zu ihnen. Wenn er bei den seltenen Journalistenfragen gar nicht umhinkann, sagt er: „Das ist nicht unser Weg.“ Mehr an Verurteilung hört man nicht von ihm. Im Gegenteil:
Als erster Innenminister und Vizepräsident seit 1945 hat er sich geweigert, am 25. April, dem Staatsfeiertag zu Ehren der „Resistenza“, teilzunehmen. An diesem Tag wird der Befreiung Italiens vom Nazi-Faschismus gedacht. Salvini stellte sich auf die Terrasse des Innenministeriums. In einer Video-Botschaft, die über Facebook verbreitet wurde, sagte er, dass er sich nicht für „das Derby zwischen Kommunisten und Faschisten“ interessiere. Das sei 70 Jahre her, da würden alte Dinge aufgewärmt. Stattdessen ging er in die Mafia-Hochburg Corleone und weihte dort ein Polizeikommissariat ein. Dies bescherte ihm auch eine böse Schelte des Staatspräsidenten. Die aus dem Widerstand hervorgegangene Verfassung ist eine klar anti-faschistische Verfassung. Wenn ein Innenminister sagt, das interessiere ihn nicht, ist das ein Skandal.
Ist der Ruf nach einem starken Mann in Italien stärker als anderswo?
Nein, da haben die Italiener keine besondere genetische Veranlagung. Die Zuspitzung auf eine Person in der Politik ist nicht nur in Italien zu beobachten. Siehe Grossbritannien mit Boris Johnson und Nigel Farage. Beispiele sind auch Justin Trudeau in Kanada, Sebastian Kurz in Österreich, und Macron ist die Krönung des Ganzen.
Die politischen Inhalte und Programme der Parteien sind entweder inexistent oder austauschbar geworden und behandeln die grossen Zukunftsaufgaben meist hilflos. Das führt dazu, dass die Person, der Anführer der Parteien und Bewegungen immer bedeutender wird – was wir Medien leider viel zu schnell und viel zu häufig mitgefördert haben. Das sage ich als langjähriger Fernseh- und Radio-Journalist.
Wie gross ist die Gefahr, dass der Faschismus in Italien wieder an Boden gewinnt?
Das Problem ist, dass in Italien seit jeher eine Banalisierung der faschistischen Vergangenheit stattgefunden hat. Die sardische Schriftstellerin Michela Murgia schrieb in ihrem Buch „Wie werde ich Faschist?“, dass Italien ein Nürnberg fehle. Das Land habe nie eine offizielle Abrechnung mit dem Faschismus gehabt.
Man hat den Eindruck, dass es immer mehr faschistische Aufmärsche gibt. Täuscht dieser Eindruck?
Nein. Da marschieren 5’000 bis 6’000 Neofaschisten auf und strecken den Arm zum Saluto romano, dem Römergruss, der dann auch zum Hitlergruss geworden ist. Und niemand schreitet ein, obwohl in Italien Symbole des Faschismus durch die Verfassung verboten sind.
Am Geburts- und Todestag Mussolinis strömten bis vor wenigen Jahren etwa 3’000 Neofaschisten nach Predappio, seiner Geburtsstadt. Dieses Jahr waren es 20’000.
Salvini küsst bei seinen Auftritten immer wieder einen Rosenkranz. Will er damit die Gläubigen ins Boot holen?
Die Lega war fast heidnisch. Salvini hat mit den Katholiken wenig am Hut. Das Küssen des Rosenkranzes ist reine Wahltaktik. Er verwendet das Christentum wieder als Speerspitze gegen den Islam und die Immigranten und erhebt sich zum Heroen des christlichen Abendlandes. In jedem öffentlichen Auftritt ruft er die heilige Madonna an, spricht sich gegen die Homo-Ehe aus und sagt, wir müssen wieder echte Familien sein, mit Vater und Mutter.
Trotzdem: die Kirche mag ihn nicht
Die Kirche hat von der ersten Stunde an die Politik Salvinis konsequent verurteilt. Der Papst tritt mindestens drei Mal in der Woche in den Hauptnachrichten auf, und drei Mal in der Woche setzt er sich für die Aufnahme und den barmherzigen Umgang mit Flüchtlingen ein.
Salvini beschwört bei seinen Auftritten immer wieder den früheren Papst Wojtyla. Er lobt ihn, weil er gesagt hat: „Europa wird christlich sein oder nicht sein.“ Dem stellt Salvini den heutigen Papst Franziskus gegenüber, der „alle Fremden bei uns aufnehmen will“. Bei der Wahlschlusskundgebung in Mailand versammelte der Lega-Chef vor dem Dom seine Getreuen um sich. Als er den Namen „Papa Francesco“ aussprach, gab es ein Pfeifkonzert der 50’000 Anwesenden. Soweit sind wir. Trotzdem küsste er dann den Rosenkranz. Aus Palermo erfuhr ich, dass das Kreuz seines Rosenkranzes jenes ist, das die Mafia verwendet. Das müsste man noch genau untersuchen.
Sind es nur die Flüchtlinge, die Salvinis Erfolg und das Erstarken faschistischer Kreise erklären?
Nein. Die Gründe für Unzufriedenheit, Frustration und die Angst um die eigene Existenz und die Zukunft ist weitverbreitet. Gründe dafür sind dreissig Jahre Turbo-Globalisierung, Turbo-Kapitalismus, die Auflösung bisheriger Lebensverhältnisse, die Digitalrevolution usw. Diese rasanten Veränderungen, dieses Gefühl, nicht mehr in der gewohnten sozialen Umgebung zuhause zu sein und sich nicht mehr beschützt zu fühlen – das macht die Leute anfällig für autoritäre Losungen und Schwarz-Weiss-Malerei.
Und natürlich gibt es wirtschaftliche Gründe: Ein Drittel der Italienerinnen und Italiener leidet, mehr oder weniger, unter sozialen Nöten. 200’000 Junge suchen jedes Jahr Arbeit im Ausland. Die Zahl der Migranten hat sich verdreifacht, weil die EU die Grenzen dichtgemacht hat. Auch wenn man nicht Hunger leidet, aber kein Geld hat, um die kaputtgegangene Waschmaschine zu ersetzen, ist es nicht verwunderlich, wenn man den Populisten mit ihren einfachen Rezepten in die Arme fällt.
Was kann gegen die populistische Politik der Lega getan werden?
Schlimm finde ich, dass die politischen Führungskräfte, die Eliten, die Medien der Propagandawucht Salvinis nicht entschlossen und intelligent genug entgegentreten. Da dies nicht geschieht, werden im Menschen archaische Impulse freigelegt. Dann wächst die Bereitschaft, fremdenfeindliche, aggressive Propagandatöne aufzunehmen.
Insofern muss die Politik einerseits durch den öffentlichen Diskurs gegensteuern: Information, Information, Fake News entlarven, erklären, Zusammenhänge herstellen. Andererseits muss die Regierung für eine gerechtere soziale Politik sorgen. Und das ist in Italien besonders schwer.
Lorenz Gallmetzer: Von Mussolini zu Salvini, Italien als Vorreiter des modernen Nationalpopulismus. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien, September 2019, 190 Seiten.