2021 verbrachte Ian Anüll (*1948) ein halbes Jahr in einem der Ateliers der Landis & Gyr-Stiftung im Londoner East-End. Was er in der Grossstadt zusammentrug, fügt er in ein schwierig und zugleich vergnüglich zu entwirrendes Netz von Beziehungen und Bedeutungen.
Ian Anüll habe schon an seinem ersten Londoner Abend – so informiert der Saaltext zur Luzerner Ausstellung – in einer Abfallmulde eine langgezogene weisse Sitzbank gefunden, sie mit ins Atelier an der Smithy Street genommen und mit sechs Zahlen bemalt – mit 13, 32, 36, 37, 39 und mit 46. Nur wer das Saaltext-Blatt genauer konsultiert, erfährt, dass es sich um die Lottozahlen des Tages 13.08.2021 handelte.
Wer das nicht beachtet, fragt sich wohl, was die Sitzbank und die Zahlen bedeuten könnten, und gerät, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen, ins Grübeln. Das Gedankenspiel um zufällige Bedeutungen beginnt, spinnt sich weiter, wendet sich dahin und dorthin, weckt Widerspruch und Zustimmung. Ob gar nicht das mit Zahlen bemalte materielle Objekt Ian Anülls eigentliches Kunstwerk ist? Ob nicht dieses Hin und Her der Gedanken zwischen den Betrachtern und dem Objekt das Kunstwerk ausmacht: Eine Art Pingpong, an dessen Anfang Anülls Strategie oder Geistesblitz steht?
Ob sich in diesem so leichtfüssigen und zugleich ernsten, weil bald an Fragen der Erkenntnis rührenden Spiel nicht Grundsätzliches zum Thema Kunst verbirgt – nämlich in dem Sinne, dass sich erst im Dialog und unter adäquaten Anteilen beider Seiten Kunst entwickelt? Das gibt es wohl, seit es Kunst gibt. Doch dass das zum Thema erklärt wird, ist neu. Oder es wird selten so klar artikuliert wie hier, womit Ian Anüll sowohl seine Bedeutung als Künstler relativiert als sich auch gleichzeitig als «Meister» eines strengen, aber durchaus auch lustvollen Spiels in Szene setzt.
Unsystematik als Prinzip
Ian Anülls Ausstellung «London Blue» im Kunstmuseum Luzern vereinigt in London gefundenes und teils einheitlich schwarz bemaltes Strandgut (zum Beispiel ein Paar Schuhe, ein Holzhäuschen, ein Brot, ein Ball), ferner eine vielteilige Serie von überarbeiteten, übermalten, kombinierten oder collagierten Strassenfotos und Zeitungsausschnitten. Es gibt stellenweise, wie in öffentlichen Toiletten, ein kaltblaues Raumlicht, das Drogenkonsum erschweren soll. Da stehen, schön aufgereiht, in China hergestellte Hartgummi-Geschosse in der Dimension von Hockern. Dazu hört man die Bananarama-Coverversion von 1989 des Beatle-Songs «HELP» (Anüll fand die Original-Single in einem Londoner Plattenladen) und sieht den Schriftzug aufleuchten.
Ian Anülls mit den Lottozahlen begonnenes Spiel setzt sich durch die ganze Ausstellung fort. Der unentwirrbar dichte und farbige Londoner Alltag des Künstlers verwickelt alles mögliche Erleben von Atmosphäre, optischer und akustischer Wahrnehmungen, gesellschaftlicher und politischer Phänomene in gegenseitige Abhängigkeiten und Widersprüche.
Von Humor bis Sarkasmus sind alle Farben und Schattierungen vertreten. Eine Kombination von Strassenfotografien konfrontiert die Tennis-Ikone Novak Đoković mit einem bis zur Unkenntlichkeit übermalten Gegenstand, eine andere dokumentiert komplexe und in irgendwelchem Untergrund versickernde Geldflüsse, eine weitere zeigt YSL-Designkleider zusammen mit einem Obdachlosen im Schlafsack und wieder eine andere zitiert Weltveränderungsbotschaften und dazu Vorher- und Nachher-Fotos erfolgreicher Schönheitsoperationen.
Ein Porträt Putins findet Anüll so in der Zeitung, dass es sich mit der «heiligen» Silbe «OM» der Hindus kombinieren lässt – worauf er das Porträt übermalt, den Namen jedoch stehen lässt. Boris Johnsons Bild versieht er mit Namen, lässt den Ex-Premier aber so mit Buchtstaben jonglieren, bis das Wort DADA aus seinem Mund sprudelt.
Hierarchische Ordnung bringt Ian Anüll nicht ins Londoner Strandgut. Er nimmt sein Erleben der Stadtrealität vielmehr zum Anlass, Unsystematik zum System zu erklären und wuchern zu lassen, was da wuchern will. Diese Eigenart der unterirdisch sich in Knäueln ausbreitenden rhizomisierenden Wurzeln haben längst Philosophen, zum Beispiel Gilles Deleuze und Félix Guttari, zum Denk- und Erkenntnismodell erklärt. Subkutan spricht Politisches mit – nicht als tagesaktueller Kommentar, sondern als grundsätzliche Skepsis gegen Hierarchie, Klarheit, Entweder-oder oder Schwarz-Weiss.
Eine Kunst? Keine Kunst?
Über dem Zugang zu einem Ausstellungsraum malte Ian Anüll auf eine Holzleiste das verwirrliche Wort «tsnuKeine». Es ist vor- und rückwärts lesbar, wobei der mittlere Buchstabe K beidseitig zu entziffern ist: Keine Kunst? Eine Kunst? Was gilt? Beides oder nichts?
Ian Anüll weiss es vielleicht selber nicht genau, kann aber nur mit der Sprache der Kunst danach fragen. Er schlägt in seinen Werken immer wieder selbstironisch Haken. Bald entzieht er sich. Bald zeigt er sich. Mit Persönlichem hielt und hält er sich zurück. Früher tat er das strenger, heute sanfter, aber nicht weniger konsequent. Schon 1969 gab er sich ganz offiziell und bis in alle bürokratischen Belange seiner Existenz den neuen Namen Ian Anüll. 2010 sagte er in einem Interview mit der Kunsthistorikerin Huang Qi auf die Frage, wo er sich zu Hause fühle: «im Kopf». Als er seinen Wohnort verliess, heftete er an seine Ateliertür einen Zettel mit der Nachricht: «Bin wieder auf Wanderschaft».
Er wird wieder Strandgut mitbringen.
Ian Anüll (*1949) stammt aus Sempach und lebt und arbeitet in Zürich. Ausbildung an den Kunstgewerbeschulen in Luzern und Basel. Seit 1969 tätig unter dem Namen Ian Anüll. Ab den 1980er Jahren Ausstellungen in Europa, Kanada und USA. 1990 Einzelausstellung in der Kunsthalle Zürich, später u.a. im Kunstmuseum Solothurn, im Helmhaus Zürich, in der Kunsthalle Zürich, im Kunstmuseum Solothurn, im Centre Culturel Suisse in Paris und im Haus für Kunst Uri. 1991 vertritt er die Schweiz an der Bienal de São Paulo.
Kunstmuseum Luzern: Ian Anüll. London Blue
kuratiert von Eveline Sute
bis 24. November
Publikation 25 Franken
Alle Fotos Marc Latzel. Courtesy the artist und Mai 36 Galerie Zürich