Wir haben die Qual der Wahl, aber zitieren wir doch den EU-Gruppenchef Jean-Claude Juncker: «Es ist klar, dass es kein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone geben wird. Es wird keine Pleite geben.» Exakt fünf Monate nach dieser Ankündigung, die wir schon damals als bescheuert bezeichneten, meint Juncker heute: «Wir sagen nicht, Griechenland muss um jeden Preis Mitglied bleiben.» Die Halbwertszeit eines grundlegenden Politikerworts lässt sich inzwischen in Wochen messen. Aber das ist nicht der Kern des Problems.
Pistole auf die Brust
Zur Ankündigung des griechischen Ministerpräsidenten Papandreou, das Volk über den EU-Rettungsschirm abstimmen zu lassen, ist dem Duo Sarkozy/Merkel nichts Besseres eingefallen als eine glatte Erpressung. Die Auszahlung der nächsten Kredittranche wird gestoppt, und die Griechen haben gefälligst nicht über das Rettungspaket, sondern über den Verbleib in der Eurozone abzustimmen. Merkel fügte an: «Wir sind auch für ein Nein gewappnet. Wenn Griechenland sagt, wir wollen nicht in der Eurozone bleiben, werden wir das akzeptieren.»
Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Fremde Regierungen schreiben der griechischen Bevölkerung vor, worüber sie abstimmen muss, und um gleich noch zu zeigen, welche Folgen eine «falsche» Stimmabgabe hätte, wird gleich mal der Geldhahn zugedreht. So nach der Devise: Du hast die freie Wahl; eins in die Fresse oder Griesbrei.
Null Gestaltungswillen
Dummes Geschwätz, haftungsfreie Ankündigungen, taktische Spielchen um Machterhalt, all das ist in der Politik nichts Neues. Es ist aber doch bemerkenswert, wie schnell die vielbeschworene Solidarität im gemeinsamen europäischen Haus in nackte Aggressivität umschlägt, wenn es ein EU-Mitglied wagt, und erst noch ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, seine Bevölkerung zu Wort kommen zu lassen.
Viel schlimmer jedoch ist die immer dramatischere Formen annehmende Unfähigkeit, politisch zu gestalten. Also beispielsweise Entschlüsse zu fassen, die nicht bereits nach genau vier Tagen obsolet geworden sind. Oder Konzepte zu entwickeln, wie denn nun die sich rasant verschärfende Eurokrise mittelfristig lösen liesse.
Im Kleinen wie im Grossen
In Griechenland sieht es ganz danach aus, dass die Opposition und sogar der amtierende Finanzminister die neuste Wendung ausnützen wollen, um Papandreou zu stürzen. Was natürlich alle Probleme lösen würde. Aber auch für Sarkozy und Merkel sind die anstehenden nächsten Wahlen unter Garantie wichtiger als die Beschäftigung mit griffigen Konzepten, wie man aus diesem Riesenschlamassel heil herauskommt. Genauso übrigens wie der französischen oder der deutschen Opposition. Beide haben keine Alternativen anzubieten. Die deutschen Sozialdemokraten stimmen sogar jeweils mit gerunzelter Stirne allen neuen Zahlungsverpflichtungen zu, damit man ihnen nicht vorwerfen kann, sie seien wieder mal vaterlandslose Gesellen und nicht dem europäischen Gedanken verpflichtet.
Ausverkauf
Am allerschlimmsten ist aber der hemmungslose Ausverkauf demokratischer Grundwerte. Nicht nur innerhalb der EU, sondern auch gegen aussen. Um die aberwitzige Hebelung des Rettungsfonds zu ermöglichen, ist die noch existierende Eurozone ja auf Investoren angewiesen. Da kommen in erster Linie die BRIC-Staaten in Frage, also Brasilien, Russland, Indien und China. Allesamt nicht wirklich mustergültige demokratische Veranstaltungen. Während zum Beispiel Brasilien bereits abgewinkt hat, zeigt sich China prinzipiell interessiert an einem Investment. Der chinesische Notenbankchef Li Daokui bringt die entscheidende Bedingung offen auf den Punkt: «Wenn China Europa hilft und investiert, ist es nicht unvernünftig, dass wir zumindest ein bisschen mehr Verständnis für unsere Anliegen erwarten.» Mit anderen Worten: Lasst uns dann endlich mit dem Gequatsche über Demokratie und Menschenrechte in Ruhe.