Letzte Woche hiess es in Kreisen der Sozialdemokraten: Wenn 900’000 oder gar eine Million Italiener ihre Stimme abgeben, wäre das ein Erfolg. Am Sonntag waren es dann doppelt so viele.
Die unerwartet hohe Wahlbeteiligung wird als Protest gegen die populistische italienische Regierung gewertet. Selbst viele Bürgerliche sagen sich: Lieber die Sozialdemokraten als die teils rassistischen Populisten der „Lega“ und der „Cinque Stelle“. „Gegen die Politik des Hasses“, hiess es auf einem Transparent vor einem Abstimmungsstand in Rom. Viele Italiener lechzen geradezu nach einer starken Oppositionspartei.
Primärwahlen
Die Mitglieder des sozialdemokratischen „Partito Democratico“ (PD) und ihre Sympathisanten waren am Sonntag aufgerufen, in einer Primärwahl einen neuen Parteichef zu wählen. Wer am Urnengang teilnehmen wollte, musste eine Gebühr von zwei Euro bezahlen. Schon am frühen Morgen bildeten sich vor den Wahlständen im ganzen Land lange Schlangen.
Zur Auswahl standen drei Kandidaten. Gewählt mit rund 70 Prozent der Stimmen wurde der 53-jährige Nicola Zingaretti. Er versprach sofort eine harte Oppositionspolitik gegen die Populisten.
Im Tal der Tränen
Der PD hatte bei den nationalen Wahlen vor genau einem Jahr eine saftige Niederlage erlitten. Die Sozialdemokraten, die unter Matteo Renzi bei den Europawahlen 2014 40,8 Prozent der Stimmen erhalten hatten, stürzten im März 2018 auf 18,7 Prozent ab. Schuld daran war in erster Linie ein sozialdemokratischer Selbstzerfleischungsprozess.
Die Cinque Stelle und die Lega triumphierten und bildeten anschliessend eine Regierung. Die Sozialdemokraten versanken im Tal der Tränen. Doch auch auf bürgerlicher Seite herrschte Katzenjammer: Berlusconis „Forza Italia“, die lange Jahre staatstragende Partei, stürzte ab. Das Feld war frei für die Populisten mit ihrer abenteuerlichen Politik.
Wie der Phönix aus der Asche?
Mit dem neuen PD-Parteichef soll sich nun die gebeutelte Partei wie ein Phönix wieder aus der Asche erheben. Die Erwartungen an den neuen Parteiführer sind enorm. „Wir haben wieder Hoffnung, dass die Populisten gebremst werden können“, sagte eine Wählerin.
Zu Hoffnung Anlass gibt den Regierungsgegnern auch eine Massenveranstaltung am Wochenende in Mailand. „Das andere Italien erwacht“, hiess es auf Transparenten. Zwischen 150’000 und 200’000 Menschen demonstrierten gegen die Regierung und gegen Rassismus. Die regierenden Populisten versuchten den Grossaufmarsch unter den Teppich zu wischen. Die Tagesschau der Rai, dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das von der Lega kontrolliert wird, informierte die Zuschauerinnen und Zuschauer mit einer Kurzmeldung an vierter Stelle. Wenn aber Salvini in einem Kaff in den Abruzzen vor 100 Leuten auftritt, wird damit die Tagesschau eröffnet.
Ohrfeigen für Bürgermeisterinnen
Zingarettis Sieg ist beeindruckend. In allen italienischen Regionen hat er klar gegen seine beiden Gegenkandidaten, Maurizio Martina und Roberto Giachetti, gewonnen. Im Norden und in Mittelitalien kam er auf rund 70 Prozent der Stimmen, im Süden auf rund 65 Prozent.
Eindrücklich ist sein Sieg vor allem auch in Rom und Turin. Beide Städte werden eher unglücklich von den Cinque Stelle regiert. Das Ergebnis ist eine Ohrfeige für Virginia Raggi, die Bürgermeisterin von Rom und Chiara Appendino, den Sindaca von Turin, beide Mitglieder der „Fünf Sterne“.
Verglühende Sterne
Die Linke hofft jetzt, vor allem die verglühenden Sterne beerben zu können. Die Cinque Stelle, die bei den letztjährigen Wahlen 32,7 Prozent der Stimmen erhielten, sind laut jüngsten Meinungsumfragen auf bis 22 Prozent abgerutscht. Viele Sterne-Wähler sind von ihrer Partei und vor allem von ihrem Chef, Vizeministerpräsident Luigi Di Maio, enttäuscht.
Erst jetzt merken viele, dass sich Di Maio von Lega-Chef Matteo Salvini missbrauchen liess. Salvini brauchte die Sterne, um seine Macht zu konsolidieren. Das ist ihm gelungen; jetzt braucht er sie nicht mehr und drängt sie ins Abseits. Zingaretti hofft jetzt, vor allem desillusionierte Anhänger der Sterne ins Boot ziehen zu können.
Schrecklich unerfahren
Da und dort war auch schon die Rede von einem möglichen Bündnis zwischen den Sozialdemokraten und den Cinque Stelle. Dagegen wehrten sich alle drei PD-Kandidaten, die jetzt zur Wahl standen. Nicht zu unrecht.
Die Cinque Stelle sind ideologisch schwer zu fassen. Sie sind sowohl links als auch rechts. Die Mitglieder bestehen aus Gutmenschen, Träumern, Weltverbesserern und Reaktionären. Vor allem sind sie „anti“. Eines eint sie: Sie sind schrecklich unerfahren und wechseln täglich das Hemd.
Bürgerliche Unterstützung?
Doch nicht nur im Cinque-Stelle-Teich hofft Zingaretti fischen zu können. Beobachter rechnen damit, dass die Sozialdemokraten künftig auch (zumindest zeitweise) von vielen Bürgerlichen unterstützt werden – aus Mangel an einer anderen wirklichen Oppositionspartei. Denn eine solche ist auf Mitte-rechts-Seite nicht in Sicht. Berlusconis „Forza Italia“ dümpelt mit ihrem ausgelaugten Führungspersonal mit 11 Prozent vor sich hin.
Zingarettis erste Aufgabe ist es nun, die chronisch zerstrittene Linke wieder einigermassen zu einigen. Ob ihm das gelingt, ist ungewiss. Bisher ist das keinem linken Parteichef wirklich gelungen. Renzi war ein Opfer dieses linken Masochismus. Selbstzerfleischung gehört zu den beliebtesten Beschäftigungen der italienischen Sozialdemokraten.
Immerhin hat jetzt der unglücklich abgetretene Matteo Renzi dem neuen Parteichef seine Solidarität zugesagt. Er erklärte, er werde Zingarelli keine Steine in den Weg legen, „so, wie man mir Steine in den Weg gelegt hat“.
Kein Tony Blair
Matteo Renzi, der in Italien noch immer unterschätzt wird und einer der besten Ministerpräsidenten der letzten Jahre war, hatte die Partei in die Mitte geführt. Er kriegte den Übernahmen „Tony Blair Italiens“.
Zingaretti will kein Tony Blair sein. Er will einen pointierten Mitte-Links-Kurs steuern. Beobachter weisen auf seine kommunistische Vergangenheit hin. Allerdings war der italienische Kommunismus nie ein wirklicher Sowjet-Kommunismus. Und mit dem Euro-Kommunismus öffnete der damalige Parteichef Enrico Berlinguer die Partei weit in Richtung Sozialdemokratie.
„Ich habe keine Wahl verloren“
Zingaretti war in seiner Jugend Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens und Friedensaktivist. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks trat er in die neue „Demokratische Partei der Linken“ (PDS, Partito Democratico della Sinistra) ein. Diese wurde 1998 zu den Linksdemokraten (DS, Democratici di Sinistra (DS) und 2007 zur Demokratischen Partei (PD).
2008 wurde er mit über 51 Prozent der Stimmen zum Präsidenten der Provinz Rom und 2013 zum Regionalpräsidenten der Region Lazio (Latium) gewählt. Er war auch Mitglied des Europäischen Parlaments. „Ich habe in meiner politischen Karriere keine Wahl verloren“, erklärte Zingaretti kürzlich. Beobachter in Rom bezeichnen ihn heute als zupackenden „klassischen Mitte-links-Sozialdemokraten“.
25 Prozent für den PD?
Der erste grosse Test für Zingaretti findet am 26. Mai statt. Dann, bei den Europawahlen, wird sich zeigen, ob ihm der Aufbruch gelungen ist. Immerhin haben die Italiener wieder die Möglichkeit, eine neu aufgestellte Oppositionspartei, in der ein frischer Wind weht, zu wählen. Es ist jedoch nicht anzunehmen, dass die starke Lega wesentlich an Stimmen einbüsst. Wenn der PD auf 25 Prozent käme, wäre das schon ein Erfolg.
Nicola Zingaretti ist der Bruder von Luca Zingaretti, einem in Italien bekannten Schauspieler, der vor allem als Commissario Montalbano Furore machte. Vielleicht hat Nicola auch etwas schauspielerische Qualitäten mitbekommen. Das hilft in der italienischen Politik immer.