Tante Berty, eine grosse, energische Frau mit männlichen Gesichtszügen, liebte das Wandern. Ihre Freundin, meine Grossmutter mütterlicherseits, muss der kinderlosen pensionierten Handarbeitslehrerin den Primarschüler als idealen und unterhaltsamen Begleiter empfohlen haben. So kam es, dass ich anfangs der 1950er-Jahre einige Male mit Tante Berty in der Umgebung von Zürich auf Wanderschaft war.
An einen dieser Ausflüge erinnere ich mich besonders gut. Ich traf Tante Berty am Bahnhof Stadelhofen, der mit seinen zwei Gleisen und der riesigen Stützmauer, an der in weissen Lettern für die Tuchfabrik Trun geworben wurde, noch überschaubar gewesen war und wohin der stolze Zweitklässler von Küsnacht allein zu fahren wusste. Beim Stadttheater nahmen wir das 4er-Tram, das damals noch zur Nordbrücke beim Bahnhof Wipkingen fuhr, und stiegen beim Escher-Wyss-Platz auf den 12er um, einen kleinen zweiachsigen Tramwagen aus den Anfangszeiten der Städtischen Verkehrsbetriebe, der zwischen Escher-Wyss und dem Hardturm hin und her pendelte.
Weiter als bis zum Hardturm reichte das städtische Verkehrsnetz nicht. Seit 1929 gab es dort zwar ein Fussballstadion, aber weiter westlich, wo die von Pappeln gesäumte Überlandstrasse am Schlieremer Gaswerk vorbei Richtung Bern und Basel führte, war das Land weitgehend unbebaut, abgesehen von der 1927 erstellten Siedlung beim Hardhof und der noch relativ einfachen städtischen Kläranlage Werdhölzli.
Wir wanderten – endlos, wie mir schien – der Limmat entlang zum Kloster Fahr, das dem Buben schon damals wie eine Oase der Ruhe vorgekommen war und wo es an Holztischen unter grossen Bäumen zum mitgebrachten Picknick einen Himbeersirup zu trinken gab. Irgendwie gelangten wir zurück nach Zürich, aber auf welchem Weg weiss ich nicht mehr.
Viele Jahre später, nachdem die Autobahn durchs Limmattal gebaut worden war, versuchte ich jeweils auf der Fahrt Richtung Bern bei Unterengstringen auf der linken Seite einen kurzen Blick auf den Turm des Klosters zu erhaschen und mir dabei den Weg entlang der Limmat und die friedliche ländliche Gegend in Erinnerung zu rufen. (Heute versperrt eine Lärmschutzwand diesen Blick und überlässt das Kloster Fahr definitiv einer anderen Zeit.) – Immer wieder fragte ich mich, wie es tatsächlich hier ausgesehen hatte und ob ich meine Erinnerung vielleicht nostalgisch verklärte.
Oasen in der Agglo
Seit einigen Jahren kann man auf der Webseite des Bundes alte Karten abrufen – teilweise bis zurück ins Jahr 1844 – und diese direkt mit dem heutigen Kartenbild vergleichen. Das habe ich kürzlich getan und dabei gelernt, dass mein frühes Bild einer friedlichen Flusslandschaft tatsächlich kein Produkt kindlicher Fantasie gewesen ist. Der älteste Kartenausschnitt des Limmattals, den ich auf der Webseite fand, stammt von der Dufourkarte von 1861. Wie ein Fels in der Brandung haben sich dort bis in die Gegenwart das Kloster Fahr und seine landwirtschaftlich genutzte Umgebung gegen Strassenbauten, Industriegebäude und Kieswerke behauptet. Ein kleines Wunder mitten in der Agglomeration, das mich seit meinem ersten Besuch mit Tante Berty fasziniert hat und das ich im Laufe der Zeit – auch mit meiner Familie – immer wieder besuchte.
So vor wenigen Tagen. Zusammen mit meiner Frau beginne ich die Suche nach Tante Bertys Spuren am gleichen Ort wie vor mehr als sechzig Jahren, im 4er-Tram Richtung Escher-Wyss-Platz. Wo einst der antike 12er auf der Hardturmstrasse weiter westwärts ratterte, fährt heute ein Cobratram der 6er-Linie. Mit dem Wachstum des besiedelten Raumes im Limmattal haben die VBZ unterdessen ihren Wirkungsradius vom Hardturm bis zur neuen Endstation Werdhölzli erweitert, wohin wir uns durch neue Quartiere fahren lassen, vorbei am massigen Gebäude der Wasserversorgung Hardhof und unter der Europabrücke hindurch.
Allerdings ist es gar nicht so einfach, von hier an die Limmat zu finden. Rechts der Bändlistrasse breitet sich der bunte Flickenteppich einer Schrebergartenkolonie aus. Während ich zurückbleibe, um ein besonders farbiges Vorstadtparadies zu fotografieren, kommt meine Frau mit einem älteren Herrn ins Gespräch, der mit einem Plastikbehälter unterwegs zu seinem Areal ist. „Jenes Häuschen, das ihr Mann eben fotografiert, gehört dem Vizepräsidenten des Vereins“, sagt er zu meiner Frau. Er selber sei der Vater des amtierenden Präsidenten, fügt er sichtlich stolz hinzu. Später lese ich, dass der Familiengartenverein Juchhof vor zwei Jahren sein hundertjähriges Jubiläum gefeiert hat.
Abwasserreinigung und Autobahnen
Von der Bändlistrasse führt eine Zufahrt nach Norden zur Kläranlage Werdhölzli. Während wir zwischen den riesigen Zeugen modernster Abwassertechnologie und einem Areal für Holzrecycling unseren Weg zur Limmat suchen, kommt mir in den Sinn, wie ich vor vielen Jahren als frisch angestellter Mitarbeiter der Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (Eawag) eine Gruppe von Abwasserfachleuten aus dem noch kommunistischen Polen in einem VW-Bus zu einer Besichtigung der damals noch geradezu romantisch anmutenden Kläranlagen chauffiert hatte. Es gehörte zum Ritual solcher Besuche, dass der Klärwärter am Schluss seiner Tour mit einem Plastikbecher Wasser aus dem Nachklärbecken schöpfte und davon trank, um den staunenden Besuchern die Überlegenheit der westlichen Technologie zu demonstrieren. Auf der Rückfahrt nach Dübendorf überredeten die Gäste – darunter drei jüngere Ingenieurinnen mit üppigem blonden Haar – den naiven Fremdenführer zu einer kleinen Einkaufstour in den Globus an der Bahnhofstrasse. Im VW-Bus wartete ich dann während endloser Minuten an verbotenem Ort an der Bahnhofstrasse, bis die Gäste aus dem Osten, mit Einkaufstaschen beladen, endlich von ihrer „nur ganz kurzen“ Tour zurückkehrten.
Endlich die Limmat. Unter der Brücke der Autobahn führt ein kleiner Steg zum rechten Ufer. Auf dem schmalen Streifen zwischen Fluss und Autobahn wandern wir, teilweise durch Wände lärmgeschützt, weiter flussabwärts. Zugegeben, es ist ein anderes Wandergefühl als auf dem Albishorn oder dem Hörnli. Die Anlage ist eine Art von verzweifeltem Versuch, Städtern den Kontakt zur Natur zu vermitteln und den Joggern Auslauf zu gewähren. „Agglopark Limmattal“ steht stolz auf einer Tafel, welche eine weitgehend in optimistischem Grün gehaltene Karte des Limmattals zeigt.
Nach der Brücke nach Unterengstringen trennen sich Fluss und Autobahn. Wie ein Keil schiebt sich hier ein gut dreissig Meter hoher, vom einstigen Linthgletscher zurückgelassener Hügel zwischen Fluss und Autobahn. An dessen südlichem Rand, wo zwischen Schlieren und Dietikon sich Fluss, Strasse und später die Spanisch-Brötlibahn durch eine enge Stelle zwängen mussten, lagen einst die Burg und das Städtchen Glanzenberg– doch davon später.
Kloster Fahr
Während sich die Autobahn nördlich ihren Weg zum Limmattaler Kreuz sucht, das uns täglich am Radio als beliebter Ort des automobilen Verweilens nahegebracht wird, schmiegt sich nur wenige hundert Meter entfernt das Kloster Fahr an die südliche Flanke des Hügels. Hier zweigt ein alter Kanal von der Limmat ab, der Müligiessen. Die Mühle und die Fährverbindung über die Limmat – sie wird heute noch im Sommer durch den Wasserfahrverein Schlieren und die Seepfadi Zürich betrieben – haben diesem Ort an der Limmat vermutlich schon vor der Klostergründung seine besondere Bedeutung und dem Kloster seinen Namen gegeben.
Kaum ist der Autolärm verstummt, tauchen hinter einer alten Obstbaumwiese Kirchturm und Gebäude des Bendiktinerinnen-Klosters, des Klosters Fahr auf. Gegründet 1130 durch die Freiherren von Regensberg, bildet es heute zusammen mit Einsiedeln ein Doppelkloster. Hier wohnte von 1948 bis zu ihrem Tod 2011 die Schriftstellerin Silja Walter, eine der acht Töchter von Otto Walter, dem Verleger und Schriftsteller. Bevor sie mit 29 ins Kloster eintrat, studierte sie Literaturwissenschaften in Freiburg und Basel. Sie schrieb Gedichte, Dramen, Mysterienspiele und Romane. Persönlich unvergessen ist mir vor allem ihr als Buch erschienenes Gespräch mit ihrem einzigen Bruder, dem Schriftsteller Otto F. Walter (1).
Diese kleine Oase der Stille mitten im hektischen, zubetonierten Limmattal, welche sich als aargauische Exklave im Kanton Zürich auch politisch von der Umgebung abhebt, strahlt eine mystische Kraft und Ruhe aus, wie ich sie sonst in der Schweiz nur noch in der Kartause Ittingen erlebt habe, abends, wenn die Touristen nach Hause gegangen sind.
Zwei Raben und Rudolf von Habsburg
Im Wirtshaus „Zu den zwei Raben“ – eine Anspielung an das Wappen von Einsiedeln – sind wir die ersten Mittagsgäste. Wir wählen einen kleinen Tisch hinter dem Ofen, bestellen Suppe, Wein und zum Dessert von den Klosterfrauen gefertigte Meringues. Später wandern wir über den Hügel zum Chlosterwald und zur Burgruine Glanzenberg. Das kleine Städtchen mit gleichem Namen lag früher der Burg gegenüber am andern Ufer der Limmat beim heutigen Dietikon, denn die Limmat floss damals weiter nördlich. Weiter flussabwärts, bei der Fahrweid, kann man immer noch den Prallhang des alten Flusslaufes erkennen. Einst kontrollierte die Burg den Verkehr auf der Limmat. Der moderne Mensch hat ihr nun die Autobahn A3/A4 zur Bewachung anvertraut, welche nur wenige Meter am einstigen Burghügel vorbei in einer mächtigen Brücke über die Limmat Richtung Urdorf setzt. So kam es, dass, wo einst der Blick auf den Fluss ging, er heute an einer Lärmschutzwand endet, hinter der man die Zivilisation rumoren hört.
Im 13. Jahrhundert, als die Zürcher mit Hilfe von Graf Rudolf IV. von Habsburg, dem späteren deutschen König, angeblich die als Konkurrenz betrachtete Burg zerstörten, hätte wohl niemand gedacht, dass 700 Jahre später die Zürcher mit ihrer S-Bahn das Städtchen durch den Namen einer neuen Haltestelle wieder auferstehen lassen würden.
Ein kurzes Stück folgen wir der Limmat abwärts, überqueren beim Kraftwerk Dietikon den Fluss und sind nach wenigen Schritten beim Bahnhof. Als auf der Fahrt nach Zürich der Zug bei der Haltestelle Glanzenberg anhält, schauen wir vergeblich nach Rudolf von Habsburg aus. Er sei weiter nach Osten gezogen und komme nur noch selten hier vorbei, flüstert mir der Mann von der Billettkontrolle ins Ohr, aber dann gehe er lieber ins Wirtshaus „Zu den zwei Raben“ im nahen Kloster. Aber vielleicht habe ich das ja nur geträumt.
(1) Eine Insel finden. Gespräch mit Otto F. Walter. Moderiert von Philippe Dätwyler. Arche, Zürich 1983, ISBN 3-7160-5004-0
Alle Fotos ausser Flugbild Mittelholzer: Dieter Imboden