Die Stärke des „Philosophie Magazins“ liegt in der Themenvielfalt und der Wiederkehr bestimmter Rubriken. So beantwortet Tomi Ungerer regelmässig Kinderfragen. Da mischen sich Witz und Weisheit. Im aktuellen Heft beantwortet er die Frage, warum es so viele Bücher gibt. Er gibt eine typische Ungerer-Antwort, verspielt und klug. Natürlich wird sie hier nicht verraten.
Liebe als System
Im Titelthema, „Kann uns die Liebe retten?“, liegen Stärken und Schwächen eng beieinander. Erhellend ist der einleitende Essay von Nils Markwardt. Er beschreibt, wie sich Liebesbeziehungen durch die Ökonomisierung unserer Lebenswelt verändern. Trotzdem bleibe das antike, von Platon beschriebene Ideal des „Einswerdens“ bestehen, worunter allerdings heute „Ruhe und Harmonie in der Partnerschaft“ verstanden werden. Markwardt sieht darin eine Trivialisierung des rauschhaften Liebesideals.
Eindrucksvoll ist Markwardts Bezug auf Niklas Luhmann, der die Liebe unter systemtheoretischen Prämissen untersucht hat. Luhmann beschreibt die Liebe als ein „Medium“, als einen ganz bestimmten „Code“, in dem zwei Liebende miteinander kommunizieren. Nur sie verfügen darüber, wodurch ihre spezifische Intimität entsteht, aus der Dritte ausgeschlossen sind.
Schön sind auch die Ausführungen von Alain Badiou. Und das Gespräch zwischen der Schriftstellerin Silvia Bovenschen und dem Philosophen Alexander García Düttmann wird bei einigen Lesern auch auf Interesse stossen. Dann aber ...
Süssholzgeraspel
Dann aber hat die Redaktion Folgendes gemacht: Sie hat einzelne Personen zu Wort kommen lassen, denen das Schicksal mehr oder weniger übel mitgespielt hat und die in der Liebe zu einem Tier, einem Menschen oder zu Gott den Rettungsanker gefunden haben. Als Kommentator dieser Betroffenheitsselbstauskünfte lassen sie den Bestsellerautor Wilhelm Schmid auftreten.
Das liest sich dann so: Ein Betroffener berichtet, dass sein Hund zugleich „Freund und Seelsorger“ sei. Schmid kommentiert: „Das hat auch damit zu tun, dass Tierliebe eine gleichermassen unkomplizierte wie bedingungslose Liebe ist. Das Tier hat den Vorteil, dass es nie ein Problem mit mir hat.“ – Eine andere Betroffene berichtet, dass die Liebe zu Gott ihrem „Leben eine Struktur“ geben habe. Dazu Wilhelm Schmid: „Im Unterschied zu den anderen Arten der Liebe hat die Gottesliebe den grossen Vorteil, dass Gott den Menschen immer genauso bedingungslos liebt, wie der Mensch an diese Bedingungslosigkeit glaubt.“ – Tiere und Gott sind offenbar praktisch, weil sie keine lästigen Bedingungen stellen.
Wilhelm Schmid ist ein pseudophilosophischer Süssholzraspler: „Liebe ist dann haltbar, wenn sie atmen kann. Wenn man einatmet und die volle Liebe in sich spürt und beim Ausatmen vielleicht auch mal nichts spürt.“
Bruchstellen der Gegenwart
Zwei Interviews, oder wie man im Philosophie Magazin sagt, „Gespräche“, sind dagegen herausragend. Der Historiker Timothy Snyder, der mit seinem Buch „Bloodlands“ einem breiten Publikum bekannt wurde und in einem weiteren Buch, das 2015 erschien, darlegte, warum sich der Holocaust wiederholen kann, analysiert die möglichen Bruchstellen der Gegenwart und nahen Zukunft. Da findet sich in aller Kürze sehr viel Erhellendes und Bedenkenswertes.
So sagt er im Zusammenhang mit dem Brexit und der aktuellen Diskussion über die Zukunft Europas: „Es ist ein Fehler der Linken zu denken, man könne Europa ohne die Staaten haben. Und es ist der Fehler der Rechten zu meinen, man könne die Staaten ohne Europa haben. Die langweilige Wahrheit lautet, dass es das eine nur um den Preis des anderen gibt.“
Blitzfrieden
Das zweite herausragende Gespräch wurde mit Alexander Kluge geführt. In grösster Klarheit wird darin herausgearbeitet, was den mittlerweile 85-Jährigen in seiner atemberaubenden Produktivität antreibt. Er bekennt sich zur Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, wobei er deren Gesellschaftskritik so wendet, dass er trotz aller negativen Tendenzen auch Chancen auf Besserung erkennt:
„Als Ganze betrachtet sind Zivilisationen ja hoch aggressiv gebaut. Unsere Zivilisation hat zum Beispiel den Blitzkrieg erfunden. Aber in ihrem aggressiven Bau gibt es Keller und Dachgeschosse, in denen die seltsame Möglichkeit lagert, dass es umgekehrt aus so etwas wie `Blitzfrieden´geben kann.“
Als Beispiel für eine solche Möglichkeit führt Alexander Kluge einen Vorgang an, der den Leser unwillkürlich an die aktuelle Situation in Frankreich denken lässt: „Nehmen Sie jemanden wie Pierre Mendès France, der völlig überraschend im Jahr 1955 Ministerpräsident von Frankreich wird. Er erklärt, innerhalb von vier Wochen Frieden in Vietnam zu machen und andernfalls zurückzutreten. Doch er hat Erfolg! Das ist so ein Fall von Blitzfrieden.“
Philosophie Magazin, Nr. 04 – Juni/Juli 2017, Heftfolge 34, 6,90 Euro, 12 CHF