Die Cyrenaika befindet sich ganz in der Hand der Volkskräfte; auch die Stadt Misrata, die noch am Freitag als umkämpft beschrieben wurde, ist nun von den Volkskräften beherrscht. Misrata liegt östlich von Tripolis und ist die zweitgrösste Stadt von Tripolitanien. Auch westlich von Tripolis, gegen die tunesische Grenze hin, sind die wichtigsten Städte, Zawiya und Zuwara, nach erfolgreichen Kämpfen mit den „Söldnern“ Ghadhafis in den Händen der Volkskräfte. Doch an der Strasse nach Westen soll es noch Strassensperren geben, die von pro-Ghaddafi Kräften gehalten werden.
Der Flecken Sirta, Heimatort Ghaddafids, in der Syrte gelegen, zwischen den beiden Landesteilen Cyrenika und Tripolitanien, befindet sich in der Hand der Ghadhafi-Kämpfer. Die Lage im Fezzan, der südlichen Wüstenprovinz ist unübersichtlich.
Schwarzafrikanische Bewaffnete in den Strassen von Tripolis
Tripolis, die Hauptstadt von gegen zwei Millionen Bewohnern, wird von den Ghadhafi-Kräften dominiert, doch gibt es offensichtlich immer wieder Unruhen und Versuche zu demonstrieren in den Volksquartieren von Suq al Jum'a, Fashloon und Zawiyat ad-Dahmani. Sie werden offenbar von Bewaffneten niedergeschlagen, die nach Ansicht der Bevölkerung zu den "Söldnern" Ghaddafis gehören und oft schwarz-afrikanischer Herkunft sind. Diese Bewaffneten sollen auch gelegentlich in Wohnungen eindringen, um dort Personen zu erschiessen, die als Drahtzieher der Demonstrationen gelten und gleich auch ihre Wohnungen zu plündern.
Die Stadt ist von einem Ring umfasst, welchen die Soldaten der sogenannten Khamis-Brigade gezogen haben. Diese Eliteinheit von ungefähr 3000 Mann, die vom jüngsten Sohn Ghadhafis, Khamis, kommandiert wird und über schwere Waffen verfügt, gilt als Ghadhafi treu. Innerhalb dieses Ringes liegt als eine zweite Festung das grosse Militärlager von al-Aziziya, in dem Ghaddafi sogar in Friedenszeiten seinen eigentlichen Wohnsitz aufgeschlagen hatte.
Wahrscheinlich hält er sich auch gegenwärtig dort auf. Innerhalb des äusseren Umfassungsringes liegt auch die grosse Flugbasis, die einst "Wheelus" hiess und den Amerikanern in der Zeit vor Ghadhafi als Basis diente. Sie heisst heute Mitiga (oder klassisch arabisch Mutiqa). Libysche Kriegsflugzeuge sind dort stationiert.
Inszenierte Normalität
Die Bewohner von Tripolis sind unter diesen Umständen Geiseln in der Hand der Ghadhafi-Kräfte. Diese versuchen den Eindruck zu erzeugen, das Leben in der Grossstadt sei "normal", es gebe nur eine Handvoll von Unruhestiftern, die in Schranken gehalten würden. Die Ghaddafi Anhänger, immer noch offiziell die Regierung Libyens, haben sogar ausgewählte westliche Journalisten eingeladen, die Stadt zu besuchen. Sie wurden eingeflogen, und sie durften, beaufsichtigt von offiziellen Begleitern, die ruhigen aber ausgestorbenen Strassen im Zentrum von Tripolis begutachten, von denen zuvor über Twitter und e-mails gemeldet worden war, dort würden die Leichen der Erschossenen eingesammelt und an unbekannte Orte verfrachtet.
Die Slogans an den Wänden würden rasch und manchmal durchsichtig übertüncht und ausgebrannte Fassaden durch Farbe und Mauern versteckt. Die Schüsse in den oben genannten Volksquartieren werden von den Ghadhafi-Sprechern, zu denen auch Saif ul-Islam persönlich gehört, der bisher als liberal geltende Sohn des früheren Machthabers, als "Feuerwerk" erklärt.
*Zum Schulterschluss mit Ghadhafi verdammt**
In der Stadt gibt es einige zehntausend Familien, die eng mit dem bisherigen Regime verbunden sind, etwa weil ihre Oberhäupter als Sicherheitsleute Ghaddafis wirkten, oder weil sie zu den sogenannten "Revolutionskommites" gehörten, die aus 20 000 ausgewählten "Kämpfern" bestanden. Diese Leute sind der Bevölkerung meist bekannt, und sie wissen, dass ihnen bittere Rache droht, wenn Ghadhafi seine Macht gänzlich verliert. Sie sind deshalb an sein Geschick gebunden, und sie dienen als der harte Kern, der Demonstranten, die sich weiter für ihn einsetzen.
Am Freitagnachmittag waren sie auf dem Grünen Platz im Stadtzentrum massiert, Ghadhafi (oder ein Sozius?) tauchte auf einer der Mauern der alten Stadtbefestigung hoch über ihren Köpfen auf und hielt eine der typischen Ghadhafi-Ansprachen mit Drohungen und Durchhalteparolen sowie beleidigenden Anwürfen für die Volksbewegung. Gleichzeitig versuchte ein grösserer Zug von Anti-Ghadhafi- Demonstranten auf den Grünen Platz zu marschieren. In der Nähe des Platzes eröffneten Pro-Ghadhafi-Bewaffnete das Feuer auf sie und zerstreuten sie, nachdem eine unbekannte Zahl von Opfern gefallen war.
Ungewisse Loyalität der Militärs
Im Gegensatz zu den ehemaligen Mitarbeitern und Schergen seines Regimes, auf welche er zählen kann, ist Ghadhafi offensichtlich seiner Soldaten viel weniger sicher. Er muss befürchten, sie könnten zur Volksbewegung überlaufen, wie dies in Benghasi der Fall war, wenn er sie unbeaufsichtigt lässt, etwa indem er sie auf Patrouille ausschickt oder gar ausserhalb seines direkten Machtbereiches für eine Offensivaktion einsetzt. Dies dürfte der Hauptgrund sein, weshalb er für diese Zwecke, bisher jedenfalls, nur die sogenannten "Söldner" verwendet, afrikanische Truppen, die sich nicht leicht mit der libyschen Bevölkerung solidarisieren, schon weil diese wenig Neigung zeigt, mit ihnen zu sympathisieren.
Doch diese "Söldner" sind in den letzten Tagen in den aussenliegenden Städten Tripolitaniens mehrmals von Demonstranten mit improvisierter Bewaffnung zurückgeschlagen worden. Offenbar sind sie besser im Morden von Unbewaffneten als beim Widerstand gegen entschlossene Gegner.
Schwere Waffen, wie Flugzeuge, Raketen, Flab-Geschütze und manchen Berichten nach auch restliche Vorräte von Giftgas, Überbleibsel der Massenvernichtungswaffen, die Ghadhafi 2003 auf Forderung der Amerikaner hin "abschaffte", befinden sich ohne Zweifel in al-Aziziya. Doch um sie offensiv einzusetzen, müssten sie aus der Festung hinaus an die eigentlichen Kampffronten gebracht werden, und in diesem Fall kann Ghadhafi nicht gewiss sein, ob sie dann auch seinen Befehlen gemäss eingesetzt würden, oder umgekehrt in die Hände der Volksbewegung fallen könnten.
Für die Offiziere und Mannschaften innerhalb des festunfsartigen Machtbereiches von Ghadhafi ist es lebensgefährlich, Befehle zu verweigern. Sie wissen ja nicht, wieviele ihrer Kameraden es ebenfalls tun könnten und welche und wieviele von ihnen bereit wären, Befehlen, sie zu erschiessen, nachzukommen. Auch sich mit Kollegen abzusprechen, ist gefährlich, da man ja nie weiss, ob sich Informanten darunter befinden. Bilder aus Benghasi von erschossenen Soldaten mit zusammengebundenen Händen haben alle Libyer gesehen. Es hiess, dies seinen Soldaten gewesen, die sich geweigert hätten, auf die Bevölkerung zu schiessen.
Der Bericht eines früheren Ghadhafi-Vertrauten
Man kann sich die Zustände innerhalb von Ghadhafis Lager so ziemlich ausmalen, wenn man die Ereignisse zugrunde legt, die sich in Benghasi abgespielt haben. Über sie ist nun mehr zu erfahren, da dort Informationsfreiheit rasch um sich greift. In einem Interview, das er einem der Korrespondenten der BBC gewährte, hat General Yunes al-Abedi, ein enger Ghadhafi-Vertrauter seit dem Putsch von 1969, einige der Hintergründe der dortigen Entwicklung aufgedeckt.
Der General, der in den letzten drei Jahren als Ghadhafis Innenminister wirkte und zugleich als der Patron der sogenannten Sicherheitstruppen galt, berichtete, er sei von Ghaddafi nach Benghasi beordert worden, um die dortigen Unruhen niederzuschlagen. Ghaddafi sandte auch Fluzeuge aus, um die Demonstranten zu bombardieren. Er, Abedi, habe mit Bruder Ghadhafi telefoniert und ihm davon abgeraten, Bombenflugzeuge einzusetzen, er habe ihm auch übers Telefon erklärt, die Cyrenaika sei verloren und der Diktator würde am besten tun, sich nach Venezuela abzusetzen.
Daraufhin sei ein Mordanschlag auf sein Automobil in Benghasi verübt worden. Er sei mit dem Leben davon gekommen, abereiner seiner Leibwächter sei erschossen worden. Abedi habe sich darauf entschlossen, auf die Seite der Volksbewegung zu treten.
Ergänzt werden diese Aussagen durch Schilderungen der Demonstranten der ersten Stunde in Benghasi, nach welchen zuerst auf sie gechossen worden sei, doch dann die sämtlichen in der Cyrenaika stationierten militärischen Einheiten in ihren Lagern die Waffen niedergelegt und sich der Volksbewegung ergeben hätten.
Vorbereitungen für den Marsch nach Westen
Hohe Offiziere dieser Truppen sollen nun im Begriff sein, Freiwillige aus den bisherigen Truppenbeständen und aus der Volksbewegung um sich zu sammeln, zu organisieren und für einen Vorstoss nach Tripolitanien zu verwenden. Unter ihnen wird Oberst Tarek Saad Hussein, der auch schon von westlichen Journalisten besucht wurde, als einer der wichtigsten militärischen Organisatoren genannt.
Er sagt aus, die Volksbewegung verfüge über Flugzeuge und Piloten die ausgeschicktworden seien, um Benghasi zu bombardieren, aber dort landeten und heute bereit seien, wenn nötig als Kamikaze Piloten, gegen Ghaddafi zu kämpfen.
Bildung eines zivilen Regierungskomitees
Die Bewohner von Benghasi scheinen sich darüber einig zu sein, dass diese neue Armee unter zivile Oberherrschaft gestellt werden müsse. Sie wollten nie mehr einen Militärstaat, sagen sie. Ein provisorisches Regierungskomitee wurde gebildet, in dem bekannte Persönlichkeiten sitzen, Richter, Advokaten, Universitätsprofessoren und Stammeschefs werden genannt. Es scheint ebenfalls Übereinstimmung darüber zu bestehen, dass die Cyrenaika sich nicht von Tripolitanien abspalten solle, sondern dass beide Landesteile zusammengehörten und dass Tripolis, die Hauptstadt des Landes, befreit werden müsse.