Vor drei Jahren feierte die Universität Konstanz ihr 50-jähriges Bestehen. Ich erinnere mich genau an das Datum des offiziellen Festaktes: Es war der 24. Juni 2016, ein heisser Freitag, der zusätzlich für Hitze sorgte, hatten doch die Briten am Vortag den Austritt aus der EU beschlossen.
Man hatte mich – grosse Ehre für den Vertreter der benachbarten Schweiz – als Festredner eingeladen. Nach den zahlreichen Begrüssungsansprachen, welche, wie nicht anders zu erwarten, die vorgeschriebene Zeit allesamt überzogen, schritt schliesslich der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, zum Rednerpult. Er sprach aus dem Stegreif während zwanzig Minuten über die katastrophalen Folgen des Brexit für Europa, was ihm niemand verargte. Unruhe breitete sich in der überfüllten und überhitzten Aula erst dann aus, als er nach seiner Briten-Schelte zum vorbereiteten Manuskript griff und sich eine weitere Viertelstunde zur grossartigen Universität Konstanz äusserte.
Schliesslich durfte ich – die ersten anderthalb Stunden waren unterdessen vorbei – selbst ans Pult. Man hatte mir ursprünglich 45 Minuten eingeräumt, aber ich spürte, dass es jetzt nur noch darum gehen könne, die Festgemeinde möglichst rasch ans Buffet zu entlassen. Ich weiss nicht mehr, wie ich mich durch meinen Vortrag geschlängelt habe, aber irgendwann war dann die Sache zu Ende.
Wie das so ist, hatte ich damals den Veranstaltern bereits viele Monate vor der Jubiläumsfeier einen Titel angeben müssen und dafür „Ein Leuchtturm steht in Konstanz“ gewählt. Mit der Metapher spielte ich auf den Erfolg der Universität Konstanz im Rahmen der 2006 lancierten sogenannten Exzellenzinitiative für die deutschen Universitäten an. Tatsächlich gehörte die Universität Konstanz – notabene als Einzige unter den nach dem zweiten Weltkrieg gegründeten sogenannten Reformhochschulen – seit Beginn zu den elf Exzellenz-Universitäten Deutschlands.
Als ich mich dann endlich hinter die Vorbereitung meines Vortrages gemacht hatte, stellte ich mit einer gewissen Besorgnis fest, dass der wirklich berühmte (physische) Leuchtturm des Bodensees zusammen mit dem bayrischen Löwen die Hafeneinfahrt von Lindau ziert, während der Hafen von Konstanz von einer etwas zwielichtigen weiblichen Statue mit dem Namen Imperia bewacht wird, zu der manch Einheimischer nur ein irritiertes Lächeln übrig zu haben scheint.
Wie sollte ich mich da mit dem gewählten Bild aus der Affäre ziehen und dem Publikum erklären, wieso der Konstanzer Leuchtturm die Form einer lasziven Frauenfigur hat? Überhaupt, was hat diese neun Meter grosse und 18 Tonnen schwere Dame in Konstanz zu suchen mit ihrem tiefen Décolleté und einer Art Bademantel, den sie mit dem vorgestellten rechten Bein neckisch zur Seite schiebt, während sie darunter nackt zu sein scheint?
In Konstanz fand von 1414 bis 1418 ein Konzil statt. Obschon die katholische Kirche zu jener Zeit nicht in einer guten Verfassung war und sich während des Konzils die Hoffnungen zerschlugen, die Einheit der gespaltenen Kirche wieder herzustellen, muss es damals in der Stadt auch lustig zu- und hergegangen sein. Der Künstler Peter Lenk erinnert mit seiner 1993 vollendeten Statue an die Kurtisane Imperia, welche laut einer Novelle von Honoré de Balzac („La belle Impéria“) während des Konstanzer Konzils eine einflussreiche Rolle gespielt haben soll.
Als vor wenigen Wochen bekannt wurde, dass die Universität Konstanz auch in den kommenden Jahren dem illustren Club der elf deutschen Exzellenzuniversitäten angehören werde, dünkte es mich an der Zeit, nach meinem letzten, vom Brexit-Entscheid überschatteten Auftritt der Stadt Konstanz, ihrer Hafenfigur und ihrer Universität in aller Stille einen erneuten Besuch abzustatten.
So fahre ich eines Morgens mit dem Zug von Zürich nach Konstanz, zwänge mich zusammen mit Hunderten Einkaufstouristen auf die Bahnhofstrasse und überquere auf einer steilen Passerelle die Bahngeleise hinüber zum Hafengelände. Auf einer eleganten Yacht sitzt die Mannschaft an einem üppigen Frühstück. Es riecht nach Spiegelei und Speck, und das leise Klingeln der Drahtseile an den Masten verströmt akustische Mittelmeergefühle. Für einen kurzen Moment steigen Erinnerungen an die Solveig in mir auf, doch bevor sich Wehmut breitmachen kann, erblicke ich zwischen den Bäumen die Imperia, in den ausgestreckten Armen je einen nackten Männerwinzling, der eine geschmückt mit den Insignien des Kaisers, der andere mit denjenigen des Papstes. Sie scheint lächelnd die ein- und ausfahrenden Kursschiffe zu beobachten, während sie sich langsam auf ihrem Sockel dreht, einmal den Blick auf das breite Dach des Konzilhauses gerichtet, dann wieder hinaus in die Weite des Bodensees.
Dem Bahngeleise entlang gehe ich über die Rheinbrücke, an deren nördlichem Ende über die Treppe zur Seestrasse hinunter und wandere ostwärts dem Ufer entlang. Nach wenigen hundert Metern mündet die befestigte Quaianlage in einen ungeteerten Weg, welcher sich dem naturbelassenen Ufer entlangschlängelt, von Badebucht zu Badebucht, durch Büsche und Bäume voneinander getrennt, so dass man die Nähe der Stadt und ihrer Touristen schon bald vergisst.
Von weitem sehe ich einen Steg, der weit hinaus in den See führt und an seinem vorderen Ende im Wasser zu versinken scheint. Gegenüber, durch einen Drahtzaun abgegrenzt, liegt die Bodensee-Therme. In einem Wasserbecken drängen sich unzählige Menschen; ihre Köpfe scheinen dicht gepackt über dem Bassinrand zu schweben. Ich wundere mich, dass man es dort schöner findet als im offenen See.
Weiter auf dem Uferweg, von dessen Länge die Anwohner des Zürichsees trotz Volksinitiativen nur träumen können. Am Landspitz, wo sich Konstanter Bucht und Überlingersee treffen, liegt ein wunderbar angelegtes Strandbad, das man als Wanderer durchqueren darf. Nach über einer Stunde Unterwegssein ist es Zeit für einen Kaffee auf der Terrasse des dortigen Restaurants. Hier sitze ich fast alleine. Sind die Konstanzer unterdessen durch das heisse Sommerwetter bereits so sehr verwöhnt, dass eine Wolkendecke, wie sie heute über dem See liegt, bereits schlechtes Wetter bedeutet?
Mir soll es recht sein. Ich wandere weiter auf dem Uferweg nordwärts, dem Überlingersee entlang, vorbei am Wasserwerk der Stadt Konstanz, dem man den Stolz ansieht, schon vor über hundert Jahren den Mut gehabt zu haben, die Stadt mit Wasser aus dem Bodensee zu beliefern. An der Fährstation in Staad herrscht reger Betrieb. Die Fähre über den Überlingersee nach Meersburg ist bereits 1928 eingerichtet worden, auf Initiative der Stadtwerke Konstanz, welche auch für die Wasserversorgung zuständig sind.
Ich schlängle mich zwischen Autokolonnen hindurch und finde die Quartierstrasse, welche mich zurück ans Seeufer leitet, wo ich auf eine Überraschung stosse: die Ruppaner Brauerei, gegründet 1795. Sie nutzt den schmalen Landstreifen zwischen dem Ufer und einer natürlichen Sandsteinwand. Früher hat man hier offenbar Tunnels in die Felswand gegraben, um das Bier kühl zu halten. Wie ich lese, stehen dort noch immer Gärtanks, wo das ungefilterte Bier lagert, das „Schimmele“.
Noch ist es zu früh, um das Schimmele zu kosten, denn ich will weiter zum kleinen Fischerweiler Egg und von dort hinauf zur Universität, welche vor über fünfzig Jahren im Mainauwald, weit von der Stadt und über dem See, gebaut worden ist. Als ich ein kurzes Stück durch den Wald gehe, erklingen vom andern Ufer die Glocken von Meersburg herüber, als wollten sie dem arbeitsamen Volk mitteilen, es sei Mittag und Zeit zum Rasten.
Das Läuten passt zu den Bauten der Uni, welche wie in einer mittelalterliche Stadt ineinander verschachtelt auf dem Hügel thronen. Kleine Treppen und Terrassen aus rotem Pflasterstein verbinden die Gebäude, und überall stehen die Zeugnisse von „Kunst am Bau“, kreative Werke, über welche die Universität anlässlich ihres Jubiläums ein eindrückliches Buch herausgegeben hat *. Nur die grossen Tanks vor einzelnen Gebäuden, in denen flüssiger Stickstoff oder Sauerstoff lagert, die leise surrenden Ventilatoren und die verschiedenen Hightech-Werkstätten passen nicht ganz zum Mittelalter.
Aber verirren kann man sich trotzdem. Nach einigem Suchen finde ich schliesslich das Strässchen, das nordwestlich durch den Wald zum ehemaligen Kloster St. Katharina führt. Das L-förmige Gebäude ist leider arg verlottert. Immerhin gibt es seit ein paar Jahren im Innenhof eine Art von Waldschänke. Einfache Holztische und zwei junge Kellner, welche zwischen den Tischen Fussball spielen, warten auf Kundschaft. Ich bestelle eine Wurst mit Brot und ein grosses Ruppaner Bier vom Fass und versuche mir vorzustellen, wie sich vor Jahrhunderten auf dieser einsamen Waldwiese im Mainauwald das Leben abgespielt hat.
Auf einer Tafel lese ich, dass der erste Hinweis auf Haus und Kapelle von Eremiten auf das Jahr 1263 zurückgeht. Ab 1436 lässt sich ein Frauenkloster des Ordens der Eremiten des Heiligen Augustinus nachweisen. Ein Kupferstich aus dem Jahre 1740 zeigt einen in einem geschlossenen Rechteck angeordneten Gebäudekomplex, von dem offenbar nur noch der nordwestliche Teil (auf dem Bild vorne rechts) übrig geblieben ist.
1809 wird das Kloster endgültig geschlossen; die zehn Nonnen ziehen nach Konstanz. Diverse Versuche mit einer Gastwirtschaft scheitern schliesslich 1965 am fehlenden Strom- und Wasseranschluss. Unterdessen ist der Mainauwald zum Erlebnispark mutiert mit Kletterbäumen und andern Attraktionen, was 2013 die Wiedereröffnung des Biergartens St. Katharina ermöglicht hat.
Frisch gestärkt wandere ich durch den Wald nordwärts Richtung Litzelstetten. Jubel und Geschrei aus dem Klettergarten tönen durch den Wald. Von hier wäre auch ein Abstecher zur Insel Mainau möglich, aber da ich die Insel schon früher mehrmals vom limnologischen Institut aus besucht habe, erspare ich es mir, mich unter die Touristen zu mischen, welche sich eben aus zwei Reisecars auf einen Parkplatz ergiessen. Stattdessen nehme ich den Bus der Stadtwerke Konstanz, der mich in weniger als einer halben Stunde zum Bahnhof fährt. Das Bier hat mich schläfrig gemacht. Ich träume von den verschiedenen Arten von Denkern, welche sich im Laufe der Geschichte in der Einsamkeit des Mainauwaldes niedergelassen haben, zuerst die Eremiten und Eremitinnen, später – kaum einen Kilometer vom ehemaligen Kloster entfernt – die Forscher. Es muss ein magischer Ort sein, dieser bewaldete Hügel über dem See.
Als der Bus über die Seebrücke fährt, erscheint für einen kurzen Augenblick zwischen den Bäumen des Stadtgartens der andere magische Ort dieser Stadt, die dunkle Gestalt der Imperia. Ecce homo – und alles auf kleinstem Raum, die Nonne und die Kurtisane, der Kaiser und der Papst, und oben auf dem Berg die Wissenschaft.
* Universität Konstanz (Hsg.), Gebaute Reform: Architektur und Kunst am Bau der Universität Konstanz, Hirmer Verlag, München, 2016, ISBN 978-3-7774-2492-7