Fast ein Fünftel aller Kriegsheimkehrer leidet heute unter einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Depression. Inzwischen übersteigt die Zahl der Selbstmordopfer in der Armee jene der Soldaten, die an der Front sterben.
Tomas Young war lediglich fünf Tage zuvor im Irak eingetroffen, aus Kansas City (Missouri), wo er unauffällig in einem „Kmart“-Laden gejobbt hatte. Er hatte selbst noch keinen Schuss abgefeuert, als ihn während einer Patrouille in Bagdads Schiitenquartier Sadr City die Kugel eines aufständischen Scharfschützen ins Rückenmark traf und von der Brust an abwärts lähmte. Sein Krieg war abrupt zu Ende und ein neuer begann, im Militärspital Walter Reed in Washington DC, der Kampf gegen schwerste physische und psychische Wunden, der vergessene Krieg, fernab von Breaking News und Leitartikeln.
Tomas Young hatte am 14. September 2001 am Fernsehen gesehen, wie George W. Bush auf den Trümmern des World Trade Center in New York über ein Megafon den Tätern der Terroranschläge von 9/11 Rache gelobte. Noch am selben Tag telefonierte der 22-Jährige einem Werber der US-Armee, um sich freiwillig zum Dienst zu verpflichten. Young hatte erwartet, in Afghanistan Osama bin Laden jagen zu können. Stattdessen fand er sich Ende März 2004 in Bagdad wieder, in einem Krieg, den er für verfehlt und verloren hält.
"Ich lebe in einem Sterbehospiz"
Ein letztes Mal noch hat sich Tomas Young nun zu Wort gemeldet. „Mein Leben neigt sich seinem Ende zu“, schreibt er in einem offenen Brief auf der Website Trithdig.com: „Ich lebe in einem Sterbehospiz.“ Der 33-Jährige hat sich entschlossen, ab dem 20. April keine Nahrung und keine Medikamente mehr zu sich zu nehmen und seinem Leben ein Ende zu setzen. Er sei schwerkrank und habe es satt, krank und müde zu sein, hat er im Spital einem Reporter des „Kansas City Star“ anvertraut.
Tomas Youngs Zustand hat sich jüngst zunehmend verschlechtert.
Konnte er sich früher noch in einem Rollstuhl bewegen und reisen, so ist er heute, in einem abgedunkelten Zimmer, ans Bett gefesselt und kann nach einer Darmoperation nur noch künstliche Nahrung zu sich nehmen. Mittels einer Handpumpe führt er sich über eine Infusion schmerzstillende Medikamente zu. Er kann kaum noch sprechen, währenddessen seine Frau Claudia sich liebevoll um ihn kümmert. Sie ist damit einverstanden, dass ihr Mann Selbstmord begeht.
"Für welche noble Sache ist mein Sohn gestorben?"
Es sei traurig, dass es so weit gekommen sei, sagt Phil Donahue, ein in Amerika landesweit bekannter liberaler TV-Talkmaster. Donahue hat 2007 über Tomas Young unter dem Titel „Body of War“ einen Film gedreht, der den beschwerlichen Alltag des Kriegsveteranen dokumentiert und das wachsende politische Bewusstsein nachzeichnet, das den jungen Soldaten zu einem der prominentesten Kritiker des Krieges im Irak hat werden lassen. Young inspirierte der Protest von Cindy Sheehan, jener Mutter eines im Irak getöteten Wehrmanns, die im Sommer 2005 in Crawford (Texas) vergeblich vor der Ranch von George W. Bush ausharrte, um den Präsidenten zu fragen: „Für welche noble Sache ist mein Sohn gestorben?“ Sheehans Sohn Casey starb am selben Tag, an dem Tomas schwer verwundet wurde.
Youngs Eintrag auf Truthdig trägt den Titel „Der letzte Brief: Eine Botschaft von einem sterbenden Veteranen für George W. Bush und Dick Cheney“. Er wirft dem Ex-Präsidenten und dessen Vize vor, im Irak unter Vortäuschung falscher Tatsachen einmarschiert zu sein: „Ihr werdet wohl der Justiz entgehen, aber in unseren Augen seid ihr gravierender Kriegsverbrechen, der Plünderei und am Ende des Mordes an Tausenden junger Amerikaner – meiner Kameraden – schuldig, deren Zukunft ihr gestohlen habt.“
George W. Bush schweigt und malt
Derweil zeigen sich die Verantwortlichen des Irak-Krieges uneinsichtig oder sie schweigen: George W. Bush bleibt stumm und malt; Dick Cheney hält gut bezahlte Referate und ist sich der enormen Kriegskosten zum Trotz keines Fehlers bewusst. Der Neokonservative Richard Perle, einer der prominentesten Kriegstreiber, behauptet allen Ernstes, ohne die Mission im Irak wäre heute alles noch schlimmer, und der frühere stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz ist von der Bildfläche verschwunden.
„Vor zehn Jahren, am Vorabend der US-Invasion im Irak, waren die Vorstellungen, genährt von der Rhetorik des Weissen Hauses, die viele Amerikaner vom Krieg hatten, in höchstem Masse falsch, wie sich herausstellen sollte“, schreibt „Washington Post“-Reporter Rajiv Chandrasekaran: „Saddam Hussein hatte, wie wir heute wissen, keine Massenvernichtungswaffen. Der Konflikt war nicht rasch vorüber. Und die Kosten des Krieges – in Menschenleben und in Dollar – haben jegliche Vorstellung bei weitem überstiegen.“
Statt Frieden in Nahost Destabilisierung
Am Ende dauerte der Krieg acht Jahre, acht Monate, drei Wochen und vier Tage. Er kostete mindestens 100'000 Irakern das Leben, tötete 4'500 junge Amerikaner und verschlang rund eine Billion Dollar. Statt dem Nahen Osten Frieden und Demokratie zu bescheren, hat der Konflikt die Region eher destabilisiert und laut Daniel W. Drezner von der Tufts University in Medford (Massachusetts) die „schleichende Militarisierung der amerikanischen Aussenpolitik“ nachhaltig verstärkt.
Über ein Jahrzehnt nach 9/11, so Professor Drezner, sei das Pentagon so mächtig wie nie zuvor und zwar auf Kosten ziviler Institutionen wie des US-Aussenministeriums. Während das State Department ein Prozent des amerikanischen Staatshaushalts ausgibt, verbraucht das Pentagon rund 20 Prozent des Budgets. Hingegen glauben Amerikaner einer aktuellen Umfrage zufolge, das Aussenministerium sowie Auslands- und Entwicklungshilfe würden einen Viertel der Staatsausgaben ausmachen.
Jeder fünfte leidet an Depressionen
Angesichts solcher Statistiken verblassen Einzelschicksale wie jenes des invaliden Tomas Young. Doch hat das den Kriegsveteranen nicht daran gehindert, sich eindringlich und öffentlich gegen Amerikas Militarisierung auszusprechen. Er wolle dafür in Erinnerung bleiben, schreibt er in seinem offenen Brief, dass er so hartnäckig wie möglich dafür gekämpft habe, junge Frauen und Männer vom Dienst an der Waffe fernzuhalten: „Ich wollte um keinen Preis, dass ein anderer wie ich aus dem Irak zurückkommt.“
Nur sind Militärmedizin und Technik so fortgeschritten, dass heute 90 Prozent der Verwundeten überleben, was aber auch heisst, dass mehr Soldaten mit komplexen und schweren Verletzungen heimkehren. Entsprechend wachsen in Zeiten knapper Finanzen auch die Ausgaben für die Pflege und Therapie von Veteranen. Laut einer Schätzung des US-Kongresses dürften sich diese Kosten im kommenden Jahrzehnt vervielfachen, von 1,9 Milliarden Dollar im Jahr 2010 auf bis zu 8,4 Milliarden 2020.
Gemäss einer Studie der RAND Corporation leidet fast jeder fünfte amerikanische Armeeangehörige, der von einem Fronteinsatz zurückkehrt, unter Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) oder einer schweren Depression. Von einer ähnlich hohen Zahl von Soldaten wird vermutet, dass sie, meist als Folge starker Bombenexplosionen, zumindest leichtere Hirnverletzungen erlitten haben. Die 500-seitige Studie spricht in diesen Fällen von „unsichtbaren Kriegsverletzungen“, wobei aber nur knapp die Hälfte der von PTSD Betroffenen medizinische Hilfe sucht. Andere, aus Furcht vor Nachteilen für die Karriere, verharren passiv.
"Er hat aufgegeben"
„Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er leben wollte“, sagt Phil Donahue über Tomas Young: „Er hat gegen jeden Rückschlag gekämpft, von der ungenügenden Pflege der für Veteranen der US-Armee zuständigen Behörde bis zu seinem eigenen posttraumatischen Stresssyndrom. Jetzt ist die Lage so verzweifelt, dass keiner, der ihn gut kennt, mehr sagen kann, er verstehe ihn nicht: Er hat aufgegeben.“ Wäre er, hat Tomas Young einst gesagt, in Afghanistan verwundet worden, so hätte ihn das auch schwer getroffen. Im Gegensatz zum Irak aber hätte er gewusst, wofür er leide. Und jetzt stirbt.
„Und dann ist der Krieg (im Irak) zu Ende, im Dezember 2011“, erinnert sich zehn Jahre nach dessen Beginn in der „New York Times“ Perry O’Brien. Er diente 2003 als Sanitäter der Fallschirmtruppen in Afghanistan und verliess die Armee als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen. „Er (der Krieg) endet an Zeitungsständen, in Bodegas. Er endet weggeworfen in Pfützen von Schlamm und geschmolzenem Schnee auf dem ratternden Boden der U-Bahn. Der Krieg sei vorüber, melden die Nachrichten, aber von Kandahar redet niemand oder von den Soldaten, die sich dort immer noch mit Schusswaffen selbst verletzen. Der Krieg ist zu Ende, selbst diese Woche, da ich das schreibe und in Bagdads Schiitenvierteln Autobomben explodieren. Der Krieg ist vorbei.“
Quellen: „The New York Times“; “The Washington Post“; „The Los Angeles Times”; “The Guardian”