Diesmal findet der Sonntagabend-Krimi nicht im Fernsehen, sondern auf der Bühne des Zürcher Opernhauses statt. Das Werk von George Benjamin heisst: «Lessons in Love and Violence». Regisseur ist Evgeny Titov.
Tatort ist England, die Hauptrolle spielt König Edward II., und passiert ist dieses Königsdrama vor rund 700 Jahren. Mord, Totschlag, Intrige, Liebe und Eifersucht – alles ist dabei und natürlich auch kriegerische Auseinandersetzungen.
«Lessons in Love and Violence» ist ein Werk des englischen Komponisten George Benjamin, der dieses Jahr den Siemens-Musikpreis erhält, sozusagen den Nobelpreis im Musik-Bereich. Das Libretto stammt vom englischen Dramatiker Martin Crimp.
Von Kasachstan nach Zürich
Regisseur ist ein Russe. Evgeny Titov, 42, kommt aus Kasachstan, wurde in St. Petersburg zum Schauspieler ausgebildet und studierte später Regie am Reinhardt Seminar in Wien. Seither hat er mit etlichen Inszenierungen für Aufsehen gesorgt und arbeitet nun zum ersten Mal in Zürich.
Es wird also spannend.
Zwei Tage vor der Premiere treffen wir uns im Opernhaus. «Hallo, ich bin Evegny», sagt er strahlend und in makellosem Deutsch. Und wie geht es ihm? «Aufgeregt bin ich und müde … es war viel los … Arbeit, Arbeit, Arbeit bis zum Schluss …» Und ein paar Krankheitsfälle im Ensemble und eine Umbesetzung. «Ich war erstaunt, wie professionell das Haus mit so einer schwierigen Situation umgeht. Ich dachte, das wäre die grosse Katastrophe für alle, Alarm …, aber offenbar ist das Alltag in der Oper.»
Mit antiker Kraft
Es ist die zweite Inszenierung des Werkes seit der Uraufführung in London vor fünf Jahren. Auf der Bühne hat Titov die «Lessons in Love and Violence» nicht gesehen. «Aber auf Video! Damals war ich noch nicht so mit Opern unterwegs. Das Opernhaus Zürich wollte das Stück herausbringen, man hat einen Regisseur gesucht und glücklicherweise war ich es dann …!»
Inzwischen hat er sich intensiv mit dem Werk beschäftigt. «Es ist ein grossartiges Stück, und egal, ob bei Shakespeare oder in einem zeitgenössischen Werk, wenn ein Stoff gut ist, pulsiert es und reflektiert die Menschen. Da rede ich auch vom Autor, von Martin Crimp, vom Plot, von der Struktur: Das ist einfach gewaltig, es hat antike Kraft und so viel Wahres … Es ist lebendig und stark, auch musikalisch, das kann einen gar nicht kaltlassen!» Kurz gesagt geht es um den englischen König Edward II., der im 14. Jahrhundert herrschte, sich in einen Günstling verliebte, seine Regierungsgeschäfte vernachlässigte, abgesetzt und grausam ermordet wurde.
Vom Text zur Bühnenversion
Hat er – ganz allgemein – beim Lesen eines Stücks schon Vorstellungen, wie das auf der Bühne aussehen könnte, frage ich Evgeny Titov. «Das ist unterschiedlich», sagt er. «Manchmal sieht man sofort etwas und denkt, ha …! Dann mache ich gleich Notizen, wie es werden könnte, und zwei Seiten oder dreissig Sätze später sagt eine Person genau das, was ich mir vorgestellt hatte und ich freue mich wie ein Kind und denke, ahhh … das habe ich doch schon vor zwanzig Sätzen gespürt! Das ist ein gutes Zeichen, dann fliesst es. Manchmal ringt man aber auch und findet erst mal keine Lösung. Man kann den Prozess nicht erklären. Wenn ich ein Stück lese und es passiert nichts in meinem Kopf, frage ich mich, ob es ein Zeichen ist, das Stück wegzulegen oder im Gegenteil dranzubleiben und weiterzumachen, bis es sich ergibt. Das ist sehr unterschiedlich.»
Bei «Lessons in Love and Violence» sei er sehr vorsichtig mit dem Text umgegangen, sagt er. «Bei Crimp handelt es sich um einen der besten britischen Dramatiker, das ist nicht einfach ein Librettist. Es gibt ja italienische Opern, bei denen liest man das Libretto und sagt gleich, oje … Bei Martin Crimp dagegen hat jeder Satz eine Bedeutung. Und der Text ist von einem gescheiten Mann geschrieben. Da muss man genau überlegen: Achtung, was wird da verhandelt. Auf jeden Fall keine 20-Minuten-Arie, in der jemand endlos singt, dass er sich verliebt hat … Hier ist alles präzise, Reaktion auf Aktion.»
Etwas ist Evgeny Titov speziell aufgefallen. «Es sind sieben Szenen und ich habe mich gefragt, woran mich diese Zahl erinnert, dann bin ich darauf gekommen: an die sieben Todsünden! Also Neid, Völlerei, Habgier, Wollust, Hochmut, Trägheit und Zorn. Diese Erkenntnis war wie ein Schock, denn man kann die Reihenfolge nehmen und auf die Szenen legen und es passt. Ich war so fasziniert. Es ist keine klassische Oper des 19. Jahrhunderts, in der die Frau an Tuberkulose erkrankt und am Schluss so schön stirbt … und das Publikum ist begeistert und alle sagen, wunderbar, wir waren im Theater, ach, herrlich und die schöne Musik … Das ist in ‘Lessons in Love and Violence’ nicht so. Es ist sehr, sehr krass, scharf wie eine Rasierklinge und auch musikalisch grandios.»
Kluge Musik
Fünf Wochen lang hat Titov bei der Arbeit im Probenraum noch nicht so viel von dieser Musik mitgekriegt. Da wurde lediglich Klavier gespielt und Ilan Volkov, der Dirigent, betonte immer wieder, sie hörten jetzt höchstens ein Zehntel von dem, was später den gesamten Orchesterklang ausmache. «Und er hat gesungen, hier ein dadadaaa, dort ein dududuuu und man denkt, ja, ja, das ist wie immer in der Oper … Und dann sitzt man im Zuschauerraum und hört zum ersten Mal in der Probe das gesamte Orchester mit George Benjamins Musik – und man japst nach Luft! Ein Wahnsinn! Ilan Volkov hatte immer gesagt, ihr werdet euch noch wundern, und ich dachte, naja …, aber ich verstehe jetzt warum. Mit dem Klavier kann man das nicht wiedergeben, diese Musik hat eine besondere Kraft. Und es ist eine kluge Musik.»
Bis jetzt hat Evgeny Titov mehr Schauspiel inszeniert als Oper. «Musiktheater hat eine ganz andere Dimension. Nicht nur, weil Musik Form und Rhythmus und Tempo gibt», erklärt Titov. «Arthur Schopenhauer hat gesagt: ‘Wie die Musik zu werden, ist das Ziel jeder Kunst.’ Er sieht also Musik als höchste Kunst. Deswegen berührt sie uns so sehr. Wenn Musiktheater gut gemacht ist, wird man mit einer ganz anderen Kraft konfrontiert, die man im Schauspiel gar nicht so erzeugen kann», sagt Titov.
Problem Russland
Als russischer Künstler heutzutage unterwegs zu sein, ist ja nicht ganz einfach. Anna Netrebko oder Teodor Currentzis sind nur zwei Beispiele. Und Evgeny Titov? Ist er auch von Sanktionen betroffen? «Gottseidank nicht», sagt er. Bereits vor mehr als einem Jahr hat er ein öffentliches Statement abgegeben, in dem er sich gegen den Krieg ausspricht, aber auch dazu aufruft, nicht alle Russen in einen Topf zu schmeissen. «Es gibt viele Russen, die gegen den Krieg sind. Aber nicht jeder wagt, sich öffentlich zu äussern, weil man dafür ins Gefängnis kommt. Viele haben Verantwortung für eine Familie, Kinder, ältere Menschen. Bitte in dieser krassen Zeit nicht noch mehr Diskriminierung, Hass und Intoleranz.»
Evgeny Titov will nicht nach Russland zurückkehren. «Ich wollte schon vor einigen Jahren raus aus Russland, nicht wegen der aktuellen Situation. Das hat mit mir als Menschen zu tun, wie ich leben möchte, wie ich mich ausdrücken möchte. Es hat zu tun mit der Frage, was bedeutet es, ein Mann zu sein, was bedeutet es, eine Frau zu sein, oder wie man sich ausdrücken darf. Das hat mit mir zu tun, mit meinem Evgeny-Sein, ich wollte freier sein und mich mit anderen Menschen umgeben. Dann kam der Krieg und damit ist eine Rückkehr jetzt sowieso unvorstellbar. Ich wollte mich befreien.»
Schwäne statt Lenin
Nun arbeitet er zum ersten Mal in Zürich, aber kriegt er neben der Arbeit auch etwas mit von der Stadt? «Da bin ich wahnsinnig langweilig», sagt er fast entschuldigend. «Ich arbeite so, dass ich es nach den Proben nur nach Hause schaffe und liege …»
Also ist es ihm eigentlich egal, wo er gerade inszeniert? «Es ist nie egal!», protestiert er. «Zürich ist eine ganz tolle Stadt. Mir wurde allerdings gesagt, ich könnte an allen Endprobentagen im See schwimmen, das wäre ganz toll … Ich habe drei Badehosen mitgenommen, aber bei dem Wetter …? Immerhin habe ich die Chagall-Fenster gesehen und die Schwäne … die liebe ich, und das Wasser natürlich auch.» Lenins Wohnhaus in der Altstadt interessiert ihn dagegen kein bisschen.
Und zum Schluss noch die Frage: Was lernen wir denn nun aus den «Lessons in Love and Violence»? «Theater soll nicht belehrend sein, im Theater machen wir Erfahrungen. Theater gibt keine schnellen Antworten, sondern wirft Fragen auf. Theater lässt uns in die Abgründe des Menschen schauen. Theater führt uns an die dunklen Orte der Triebe, des Irrationalen und des Unbewussten. Das spüre ich auch ganz stark in dieser Oper.»
Opernhaus Zürich
«Lessons in Love and Violence»