Nach über einem Reform-Jahrzehnt reiste der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping 1992 in die Südprovinz Guangdong, um den seit dem Tiananmen-Zwischenfall 1989 lahmenden Reformprozess wieder in Schwung zu bringen. Mit grossem Erfolg wie Zahlen zeigen: Das Brutto-Inlandprodukt Chinas betrug 1990 umgerechnet 396 Milliarden Dollar, wuchs zehn Jahre später auf 1,21 Billionen Dollar, um 2010 bereits 6,03 Billionen und 2020 15,2 Billionen Dollar zu erreichen. Dengs Reise in den Süden hatte, wie so vieles im Reich der Mitte, einen historischen Hintergrund. Manch ein Kaiser reiste in die Provinzen, um etwas wieder in Bewegung zu bringen. Qing-Kaiser Kangxi war am Ende des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts wohl das berühmteste Beispiel. Parteichef Xi Jinping liess sich wahrscheinlich sowohl von Deng als auch von Kangxi inspirieren.
Xi Zhongxun
Dazu kam, dass Xis Vater Xi Zongxun zu Beginn der Reform von 1978 bis 1981 Gouverneur und Parteisekretär der Südprovinz Guangdong war. Vater Xi war derjenige, der Deng Xiaoping überzeugt hatte, mit Sonderwirtschaftszonen zu experimentieren. Seine Überlegung war einfach. Er beobachtete, wie viele in die benachbarte britische Kronkolonie Hongkong flohen, wo Lebensbedingungen und Löhne sehr viel besser waren. Warum also, überlegte Xi Senior, in Guangdong nicht ähnliche Verhältnisse schaffen. Er schlug Deng vor, Versuchsregionen einzurichten, wo marktwirtschaftlich und mit ausländischem Kapital die Wirtschaft angekurbelt werden könnte. Die pragmatische Art mit Versuchszonen, wie sie ja anfangs der 1980er-Jahre auch in der Landwirtschaftsreform erfolgreich erprobt worden sind, leuchtete Deng Xiaoping ein. «Nennen wir sie Sonderzonen», beschied Deng, so wie einst die Shaanxi-Gansu-Grenzregion hiess, die Xi Zhongxun während des antijapanischen Krieges befehligte.
«Shenzhen»
Als erste Sonderwirtschaftszone wurde im Mai 1980 Shenzhen gleich jenseits von Hongkong gewählt. Deng Xiaoping verkündete wie immer einprägsam: «Lasst den Westwind herein. Reichtum ist ruhmvoll.» Wenig später im August 1980 kamen Zhuhai nördlich von Macau und Shantou hinzu. Bis heute wurden Dutzende von weiteren Sonderwirtschaftszonen hinzugefügt. Shenzhen ist bis heute eine Stadt der Superlative geblieben. Das ist wohl auch der Grund, dass Parteichef Xi auf seiner bereits dritten Südreise Shenzhen besucht hatte. Er bezeichnete die Stadt als «ein Wunder der Weltentwicklung». Nach einem Leitsatz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas soll Shenzhen bis 2025 zu «einer der führenden Städte weltweit in Bezug auf Wirtschaftskraft und Entwicklungsqualität» und bis 2035 gar eine «Weltstadt der Spitzenklasse» werden.
Zentrum der Innovation
In der Tat, Shenzhen wurde zur Stadt der Superlative. 1978 zählt sie erst 30’000 Einwohner, heute sind es fast 15 Millionen. Die Millionenstadt wurde zu einem Zentrum der Innovation vor allem in der Elektronik und Telekommunikation. High-Tech-Firmen wie Huawei, Tencent, BYD oder ZTE haben hier ihren Hauptsitz oder wurden hier gegründet. Kapital aus dem Ausland fliesst in Strömen. Shenzhen ist mittlerweile das weltweit neuntgrösste Finanzzentrum. Die taiwanesische Firma Foxconn produziert mit 300’000 Arbeiterinnen und Arbeitern in der sogenannten iPod-City für Apple, Sony und Hewlett-Packard. Das BIP von Shenzhen beträgt heute 400 Milliarden Dollar, das BIP pro Kopf 35’000 Dollar und das verfügbare Einkommen pro Kopf 9’300 Dollar pro Jahr. Zusammen mit Hongkong zählt die grösste Stadt im Perlfluss-Delta so viele Einwohner wie Peking.
Verändertes internationales Umfeld
Bei seiner Rede in Shenzhen versuchte Parteichef Xi Jinping etwas ähnliches wie 1992 Deng Xiaoping: Wiederankurbelung der Reform und Öffnung nach aussen. Dabei gelte es, so Xi, Innovation als primäre Triebkraft anzuerkennen und den Wettlauf bei der globalen technologischen Revolution und der industriellen Transformation zu gewinnen. Xi begrüsste eine stärkere ausländische Beteiligung an den Sonderwirtschaftszonen, den Reformen, der Öffnung nach aussen sowie der Entwicklung Chinas insgesamt. Doch das internationale Umfeld, so Xi, habe sich verändert: «Die Weltwirtschaft steht derzeit vor komplizierten Herausforderungen. Auf keinen Fall sollten wir uns von den sich umkehrenden Trends und Strömungen aufhalten lassen. Wir sollten die richtige Seite der Geschichte wählen, um die allseitige Öffnung unbeirrbar auszuweiten und den Aufbau einer offenen Weltwirtschaft und einer Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft für die Menschheit zu fördern.»
Qualität statt Quantität
In der Rede Xis wurde auch die Kontinuität der chinesischen Reformen klar ersichtlich. Die Zeit des «schnellen Wachstums», so Xi einmal mehr, sei vorbei, man müsse sich jetzt auf «Qualitatives Wachstum» fokussieren. Das heisst etwa Umwelt schonen oder Lebensstandard erhöhen. Die Abhängigkeit von Exporten müsse verringert werden, es gelte, sich verstärkt auf den Binnenkonsum zu konzentrieren.
Gute Karten
Xi Jinpings dritte Reise in den Süden und insbesondere die Reden in Shenzhen und anderswo in Guangdong kommen nicht von ungefähr. Ende Oktober wird nämlich das Plenum des Zentralkomitees den 14. Fünfjahresplan (2021–2025) beraten und zuhanden des Nationalen Volkskongresses (Parlament) verabschieden. Xi Junior hat wohl auch wegen Shenzhen-Initiator Xi Senior gute Karten.