Das mit Tausenden von kristallklaren Glasmurmeln unterschiedlicher Grösse auf dem Museumsboden gebildete Quadrat, "Turbulence" genannt und vier auf vier Meter messend, ist im doppelten Sinne einfach schön: einfach und schön.
Faszinierend filigran und beim näheren Betrachten überraschend gefährlich wirkt "Impenetrable (s version)", eine hängend-schwebende Skulptur aus Stahl und Angeldraht.
Mona Hatoum, 1952 in Beirut geboren, als palästinensische Britin in London und Berlin lebend, ausgezeichnet u. a. mit dem Preis der Roswitha-Haftmann-Stiftung und dem Joan-Miró-Preis, weltweit präsent und nun erstmals mit einer Einzelausstellung in der Schweiz, nimmt im Kunstschaffen der Gegenwart einen hohen Rang ein. Dem Werk beschreibend und besprechend gerecht zu werden, ist auch bei Mona Hatoum eine tückenreiche Schwierigkeit. Schnell schnappt die Phrasenfalle zu.
Ungehemmte Deutungslust
Die Begegnung mit einer wichtigen Künstlerin verdanken wir den St. Galler Kuratoren Konrad Bitterli und Nadia Veronese. Was ihnen aber sprachlich einfällt, liest sich häufig als Mischung aus sachlicher Information und werkentfernter Interpretation. Wo das Wort am Objekt scheitert, sucht es deutungslustig im Biographischen Hilfe. Darum wird, zum Beispiel, die Bemerkung, "Seit den 1990er-Jahren realisiert sie Skulpturen und Installationen …", verlängert mit "… in denen der abwesende Körper als Metapher für Bedrohung und Verletzlichkeit steht."
Diese Folgerung ergibt keinen Sinn. Einer Skulptur oder Installation fehlt nun mal der leibhaftige Mensch, weshalb seine Abwesenheit weder erwähnenswert noch geeignet ist "als Metapher für Bedrohung und Verletzlichkeit". Die Logik schlägt einen Purzelbaum. Aber der Satz, rasch gelesen, klingt nach bedeutungsschwerer Kunst und anrührend nach sensibler Künstlerin. So ist es. Nur die Begründung holpert.
Ehrfurcht bis zum stockenden Blut
An einer Wand hängt "Untitled (rack)" aus Baustahl, Aluminium, Vinyl und Durchschlagpapier. Wir sehen, so beschreibt es das Museum, "eine einfache Stahlgarderobe, an der zwei zu Kreisen gebogene Metallkleiderbügel hängen, die zarte Zeichnungen der östlichen und westlichen Hemisphäre auf der Wand einrahmen. An einem weiteren Haken hängt lose eine Plastiktasche, die aus einer zerschnittenen Weltkarte besteht und an ein Einkaufsnetz erinnert." Das ist präzis formuliert, leider weder frappierend genug noch für die Kunstwelt atemberaubend.
Darum muss Weihrauch her, damit uns das Ding an der Wand in Ehrfurcht erschaudern lässt: "Auf metaphorische Weise scheint das Werk auf die Unsicherheit von Konzepten wie 'Ost' und 'West' anzuspielen und darauf zu verweisen, wie vergänglich die Welt, so wie wir sie heute kennen, sein kann."
Genau. Mit der Einschränkung freilich, dass die Welt schon immer vergänglich war und es mutmasslich bleiben wird. Und weil sich die Kleiderhaken als solche gegen die kunstkritischen Deutobolds sträuben, werden sie flugs verwandelt in einen Leitartikel über die Zweifelhaftigkeit unserer Denkmodelle. Schon ist das tiefe Erkenntnisloch gegraben, in dem die Wandplastik verschwindet und uns kunstfrei Werden, Sein und Vergehen erörtern lässt.
Seltsame Fährten
Hin zum Objekt "Natura morta (medical cabinet)" nimmt uns das Museum einstimmend mit den Worten bei der Hand: "Bei diesem Werk hat Hatoum die Formen von Handgranaten in farbigem, spiegelndem Murano-Glas umgesetzt. Diese dekorativen, verführerischen Objekte erinnern in ihrer Form an sinnliche Früchte und oszillieren in vielschichtiger Weise zwischen Attributen wie tödlich und explosiv, seltsam verlockend und haptisch anziehend."
Was nun: Tödliche Handgranaten oder explosive Früchte? Auch poetisch angehimmelte Bömbchen löschen Leben aus. Seit dem paradiesischen Sündenfall richteten Früchte keinen grösseren Schaden an. Der Text führt uns auf seltsame Fährten.
Hinfahren und mit eigenen Augen schauen
Trotz der Einwände gegen die floskelfreudigen Kommentare: Die gekonnt inszenierte Ausstellung ist besuchenswert. Zudem als Trost nach St. Gallen: Lesestoff mit verstiegenen Interpretationen ist die internationale Museumsregel.
Wer vor der Kunstkritik etwas gewarnt sein möchte, lese von Hans Platschek "Über die Dummheit in der Malerei", als Taschenbuch bei Suhrkamp 1984 erschienen und bis heute ein erhellendes Vergnügen.
Bis 12. Januar 2014, www.kunstmuseumsg.ch