Auch Ausdauer und Geschwindigkeit eines Panzergrenadiers, traditionell in Thun ausgebildet, hätten niemals ausgereicht, um die gesamten dreiunddreissig (!) Schauplätze der Thuner Kulturnacht, zwischen 18.00 und 24.00 Uhr am vergangenen Samstag alle zu besuchen. Die Kulturmeile zwischen Schadau und Arefeldplatz (für Nichtthuner: vom Ende des Sees bei der uralten, schweizweit bekannten Kirche von Scherzligen, vorbei am Bahnhof, über die Aare hin zu Stadtkirche und Schloss sowie der darunter liegenden Altstadt) bot läuferisch eine erste Herausforderung.
Von Scherzligen zu Wocher
So beschliessen meine Frau und ich, am oberen Ende zu beginnen, um uns systematisch aareabwärts durchzusehen, zu hören und zu staunen. Die ersten Gebäudeteile des romanischen Kirchleins von Scherzligen gehen ins 8. Jahrhundert zurück, die restaurierte monumentale Passionsdarstellung, welche praktisch das ganze Schiff und den Chor beschlägt, wurde „erst“ 1469 angebracht, um dann allerdings im Zuge der Reformation übermalt zu werden. Was wohl mit dazu beigetragen hat, dass eine Restauration des ursprünglichen Zustandes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt möglich war. Man lässt sich dort zunächst die Beschreibung einzelner Szenen durch eine Kunsthistorikerin, dann Orgelmusik von Barock bis Pop gerne gefallen – wie an allen andern Kultur-Schauplätzen wechseln sich die Darbietungen im Rhythmus von 30 Minuten ab.
Weiter ins benachbarte Schloss Schadau, heute Hotel und Feinschmeckerlokal, wo in einem historischen Saal der Barock mit Spinett und Flöte gefeiert wird. Gleich nebenan, im monumentalen Stadt-Panorama des süddeutschen Malers Marquard Wocher (kein Vorfahre!) dann sphärische Musik von Trompete, Cello und Computer, was die vor kurzem restaurierte Vogel(rund)schau von Wochers Biedermeier-Thun erstaunlich lebendig erscheinen lässt. Die SängerInnen der „Thuner Bärgfründe“ im Espace Culturel (Musik, Wort und Kunst). Den „Frachtraum“ hinter dem Bahnhof, wo die Disco im Hinterraum eine nachmitternächliche Afterparty dann wohl ohne Jodler verspricht, lassen wir im Moment links liegen.
Via Bulgarien zum „Kunstangriff“
Denn im grossen Saal des altehrwürdigen Hotels „Freienhof“, gewichtig dargestellt bereits im Wocher-Panorama, sind Musikanten aus der bulgarischen Stadt Grabonov, Partnergemeinde von Thun, zu Gast. Interessante zweistimmige Volksweisen von Trachtenfrauen lösen sich ab mit einer virtuosen, aber leicht eintönig dudelnden Steppenflöte. Wir stellen fest, dass uns das aus Bahnhofsunterführungen bekannte Spiel von Panflöten eigentlich besser gefällt und ziehen bald weiter. Projektionen auf den Schlossmauern rechts oben zeigen die vielfarbigen Kugeln im Signet dieser ersten Thuner Kulturnacht und locken mit einer laut Programm atemberaubenden Seiltanznummer.
Aber wir sind zu spät, für Seitänzerinnen wird’s wohl zu kühl und so streben wir Richtung Rathausplatz, wo die KünstlerInnen von „Artacks“ an einer grossflächigen Leinwand arbeiten. Mit einem Glühwein in der Hand verfolgen wir, wie immer wieder einzelne Teile der Leinwand aus dem monumentalen Gesamtgemälde herausgelöst werden und für einen Beitrag in die „Kasse für notleidende Künstler“ gleich in einer an Take-Away Pizzerien gemahnenden Schachtel fortgetragen werden können. Auch wir erstehen so trotz Schachtel nicht zwei „Quattro Stagioni“, sondern eine originelle Stadtansicht des „Times Square“, wo auf dem Billboard nicht für Cola, sondern Freidenken („Think out of the Box“) geworben wird.
Der Maler unseres Kunstwerkes stammt allerdings nicht aus New York, sondern aus dem Stadtberner Lorrainequartier, wo er, wie er uns anvertraut, meist Tattoos steche. „Meine Familie will auch essen, allein könnte ich von meiner Kunst knapp leben, aber nicht meine Kinder.“
„Velschensaal“ und Tanz im Stadtrat
Auch ohne Kulturnacht lohnt sich ein Besuch in Thun allein schon wegen der Rundsicht von der Mitte des Rathausplatzes aus. Heute Abend sind die altertümlichen Gebäude zudem von innen her hell beleuchtet, da in praktisch jedem eine Kulturnummer gespielt wird. Märchenhaft der Blick unter das dank moderner Rundverglasung gut sichtbare Satteldach des mittelalterlichen Hotels Rathaus, einem der ältesten vollständig erhaltenen Gebäude der Stadt. Im „Velschensaal“ gleich unter diesem Dach fühlt sich meine Frau als Fribourgerin sofort wohl. Allerdings geht hier eben ein „Wissenschaftsquiz“ von weissgewandeten Forschern zu Ende, der zu naturwissenschaftlicher (?) Betrachtung von Kultur animieren will.
Vor die harte Entscheidung gestellt, ob wir dem auf den Grund gehen wollen, beschliessen wir, im Rathaus daneben die letzte Tanzvorstellung nicht zu verpassen. Im Saal, wo normalerweise der Stadtrat tagt, in Thun die Legislative, bewegen sich rund 20 jüngere und ältere Damen, teils verträumt langsam, teils dynamisch akrobatisch zu harter Rockmusik. Einzeln, zu zweit und viert oder auch als Gruppe. Mit etwas Phantasie lässt sich eine Parallele sehen zu politischer Konfrontation und Kooperation.
Ausklang mit Jazz
Unterdessen geht’s auf Mitternacht zu, welche wir im ersten Stock des neben dem Rathaus gelegenen Hotels „Krone“ (Tipp: bestes China-Restaurant im Berner Oberland) erleben. Passend mit „Midnight Blues“ und anderen klassischen Jazznummern, virtuos dargeboten von einem Thuner Septett, deren durchwegs weisshaarige Mitglieder den originalen Swing ihrer Nummern (fast) noch selbst erlebt haben könnten.
So geht eine Nacht, tatsächlich nicht wie jede andere, zu Ende und wir können das überall gültige Eintrittsarmband, für bescheidene Fr. 35.– vor sechs Stunden in der Kirche Scherzligen erworben, wieder ablegen. Aber nicht ohne uns gegenseitig zu versprechen, dass wir unseren Wohnort seit sechs Jahren nie mehr als „langweilig“ bezeichnen werden.