Am 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China sprachen unisono alle von Mao Zedong, Deng Xiaoping oder Tschou En-lai. Von Mao als demjenigen, ohne den es kein neues China, und von Deng Xiaoping, ohne den es kein dank der wirtschaftlichen Reform und Öffnung nach aussen modernes, prosperierendes China geben würde. Von Tschou schliesslich als demjenigen, der beim Volk beliebt war trotz vielen wegen Maos Utopien entstander Leiden – einer katastrophalen Hungersnot (1958–61) mit über 35 Millionen Toten und der chaotischen Jahre der Kulturrevolution (1966–76).
Neben Mao, Deng und Tschou waren natürlich viele andere an den Erfolgen – und Misserfolgen – des neuen China aktiv beteiligt. Doch nur wenige der kaum Bekannten schafften es je ins allgemeine Bewusstsein. Selbst auf dem Radar der China-Experten oder China-Korrespondenten tauchen sie kaum je einmal auf.
Wirtschaft vor Klassenkampf
Es ist eine Binsenwahrheit, dass zum Verständnis der Gegenwart detaillierte Geschichtskenntnisse nicht wenig beitragen können. Einer jener wenig Bekannten ist für das moderne China von besonderer Relevanz. Er markierte – zusammen mit dem als „Reform-Architekten“ bekannten grossen Revolutionär Deng Xiaoping – einen markanten Einschnitt, ja Bruch in der Geschichte der Volksrepublik. Es war der ideologische Einschnitt von 1979, als wirtschaftliche Entwicklung vor Klassenkampf absoluten Vorrang erhielt.
Xi Zhongxun war zeitlebens – wie Deng – ein Pragmatiker, aber auch ein Querdenker, der stets nach kreativen Lösungen suchte und sich kaum jemals das Wort verbieten liess. Für den Sohn eines einfachen Bauern war das nicht immer einfach, schon gar nicht in der Kommunistischen Partei Chinas. Während seiner langen Partei- und Regierungskarriere wurde er mehrmals Opfer von Säuberungen und kaltgestellt. Doch er blieb ungebrochen bis an sein Lebensende.
Xi Zhongxun wurde als Sohn eines Bauern 1913 in Dancun (Funping) in der nordchinesischen Provinz Shaanxi geboren. Bereits in der Mittelschule schloss er sich der Kommunistischen Jugendliga an. Er wurde als 15-Jähriger von der nationalistischen Regierung wegen Aufruhrs verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Als Xi 21 Jahre alt war, wurde er Vorsitzender des Sowjets der Shaanxi-Gansu-Grenzregion. Eine seiner Prioritäten war eine saubere Regierung und null Korruption. 1935 geriet er zum ersten Mal in eine Säuberung, wurde vom Zentralkomitee aber bald wieder voll rehabilitiert.
„Partei-Interessen an erster Stelle“
Xi verbrachte seine frühen Jahre in seiner Heimat Shaanxi, die nach dem Ende des legendären Langen Marsches 1935 in Yan’an den entscheidenden Stützpunkt erhielt. Von Yan’an aus wurde vieles, was später für China wichtig wurde, in die Wege geleitet und entschieden: die Landreform etwa oder die Einstellung der KP zu Kunst und Erziehung. Im Winter 1942/43 kritisierte Xi an einer Parteikonferenz linke Dogmatiker, etwas, das der kreative Pragmatiker zeit seines politischen Lebens immer wieder tat. Xi erhielt eine Verdiensturkunde mit folgender Widmung von Mao persönlich: „Setze die Partei-Interessen an erster Stelle“.
In den folgenden Jahren wurde Xi für das ökonomisch und strategisch wichtige Suide – das Nordtor von Yan’an – und Guangzhong – das Südtor Yan’ans – zuständig. Bereits in Yan’an arbeitete der junge Xi eng mit Tschou En-lai zusammen. Xi setzte in der nördlichen Grenzregion Wirtschaft, Landreform und Erziehung als Schwerpunkte. Im Oktober 1945 wurde er Stellvertretender Direktor der ZK-Organisationsabteilung und Parteisekretär des ZK-Nordwestbüros. Mao lobte Xi: „Wir haben einen jungen Mann als Sekretär des Nordwestbüros gewählt. Er ist ein fähiger Führer des Volkes und für das Volk.“
Im Bürgerkrieg (1945–49) gegen die Nationalisten kämpfte Xi an der Seite von Marschall Peng Dehuai im Nordwesten Chinas. Nach Siegen der Nordwest-Feldarmee begann Xi mit der Landreform. Erneut versuchte Xi, sich gegen ultralinkes Vorgehen zu wehren. Von Mao erhielt er noch einmal Unterstützung: „Ich stimme vollkommen überein mit Xi Zhongxun. Die kommunistischen Basen in Nord- und Zentralchina sollten streng darauf achten, linke Irrtümer zu korrigieren.“
Linker Widerstand
Mit der von Peng Dehuai kommandierten 1. Feldarmee stiess Politkommissar Xi über die Wüste Gobi nach Xinjiang vor. Die Nordwest-Militärzone wurde 1950 geleitet von Peng mit Xi als Politkommissar an seiner Seite. Xi wurde alleiniger Vorsitzender der Nordwestzone, nachdem Peng zu Beginn des Koreakrieges (1950–53) als Kommandant der chinesischen Freiwilligen-Armee berufen wurde. Während der Landreform im Nordwesten versuchte Xi, das Land einigermassen gerecht zu verteilen, selbst an ehemalige Grundbesitzer. Er stiess auf linken Widerstand.
1952 wurde Xi nach Peking berufen. Dort machte er in Partei und Regierung schnell Karriere. Er arbeitete in all diesen Jahren eng mit Premierminister Tschou En-lai zusammen. Im September 1953 wurde Xi Generalsekretär des Staatsrates und im März 1959 wurde er vom ZK zum Vize-Premierminister ernannt. Während des Grossen Sprungs nach vorn (1958–61) – Maos Utopie, die westlichen Staaten einzuholen und zu übertreffen – meldete Xi als einer der ersten Führer bald Zweifel an.
„Ehrlich bleiben“
Bei einer Inspektion im Nordwesten forderte er die Kader auf, „ehrlich zu bleiben“. „Es spielt keine Rolle“, fügte er hinzu, „wenn einige Produktionsziele nicht erreicht werden.“ Eine solche Aufforderung war in jenen Jahren unüblich, ja gefährlich. Die meisten Kader meldeten unrealistisch hohe Produktionszahlen in die Zentrale nach Peking.
Das war einer der Hauptgründe für die Hungersnot, der je nach Schätzung zwischen 35 und 45 Millionen Chinesinnen und Chinesen zum Opfer fielen. Auch die Hinterhof-Stahlöfen bezeichnete Xi als ineffizient und als Verschwendung. Doch die Linken, unterstützt von Mao, behielten die Oberhand. Xis alter Mitkämpfer, Marschall Peng Dehuai, wurde wegen eines kritischen Briefes an Mao kaltgestellt.
Antiparteigruppe
Im Sommer 1962 wurde dann auch Xi kaltgestellt. Grund: Xi war mit einem Romanautor befreundet. Der Geheimdienstchef und Mao-Günstling Kang Sheng verurteilte den Roman „Liu Zhidan“ von Li Jiantong als versteckten Angriff auf die Partei. Xi und seine Anhänger wurden als „Antiparteigruppe“ verurteilt. Die nächsten 16 Jahre verbrachte Xi zum Teil im Gefängnis, zum Teil in Luoyang als Vizemanager einer Traktorfabrik.
Während der Grossen Proletarischen Kulturrevolution (1966–76) wurde er von den Roten Garden nach Xi’an verschleppt, dort gedemütigt und ein Jahr in Haft gehalten. Xis Frau weigerte sich, trotz einer Aufforderung von Kang Sheng, sich scheiden zu lassen. Xis Kinder – zwei Töchter und zwei Söhne – büssten mit. Der ältere Sohn Jinping verbrachte – wie Millionen anderer junger Chinesinnen und Chinesen – sechs Jahre auf dem Land und „lernte vom Volk“.
Voll rehabilitiert
Zwei Jahre nach Maos Tod wurde Xi Zhongxun voll rehabilitiert. Im Februar 1978 wurde er vom Zentralkomitee in die Südprovinz Guangdong entsandt. Mit Staunen konstatierte Xi die Flucht von Zehntausenden nach Hongkong. Die Lösung von Provinz-Parteichef Xi: „Nur wenn man das Leben des Volkes verbessert, wird der Exodus gestoppt.“ Xi initiierte Handels- und Exportbasen als Pilotprojekte in Shenzhen und Zhuhai.
Pilotprojekte waren der Schlüssel für die chinesische Wirtschaftsreform. In der Provinz Anhui wurden in der Landwirtschaft die Volkskommunen aufgelöst und durch das Familienverantwortungssystem ersetzt. Nach und nach wurde das erfolgreiche System im ganzen Land eingeführt. Das pragmatische Vorgehen wurde mit Reformen der Industrie – wie eben in Guangdong – wiederholt. Nach einem Besuch in Australien, Hongkong und Macao meinte Xi zukunftsweisend: „Wir sollten von den kapitalistischen Ländern lernen, was Wissenschaft, Effizienz und ökonomische Produktion betrifft.“
„Wahrheit in den Tatsachen suchen“
Am berühmten Dritten Plenum des XI. Zentralkomitees im Dezember 1978 wurde dann Deng Xiaopings neue Richtlinie – Wirtschaft statt Klassenkampf – verabschiedet. Fortan sollte die „Wahrheit in den Tatsachen gesucht“ werden.
Im April 1979 konnte Xi Deng Xiaoping von seinen Pilotprojekten, den Sonderzonen im südlichen Guangdong, überzeugen. Wenig später stimmten das ZK und der Staatsrat zu. Zum Namen der Sonder-Wirtschaftszonen meinte Deng: „Nennen wir sie Sonder-Wirtschaftszonen. Auch in der Shaanxi-Gansu-Grenzregion gab es Spezial-Zonen, die wir später Sonder-Wirtschaftszonen nannten.“
Ende 1980 wurde Xi Zhongxun nach Peking zurückgeholt. Er wurde Stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Volkskongresses (Parlament). Zwei Jahre später wurde er gar Politbüromitglied. Er führte Delegationen ins nähere und weitere Ausland. In China setzte er sich besonders für grüne Anliegen ein, aber auch für Frauenrechte, Erziehung und Kultur. Dank Xi blieb die alte Stadtmauer von Xi’an erhalten, und in der Kunst sollten nach Xi „verschiedene Standpunkte erlaubt“ sein.
Am Ende seiner langen, schwierigen aber erfolgreichen Politkarriere liess er sich noch einmal nicht den Mund verbieten. Als 1987 der im Volk beliebte Parteichef Hu Yaobang wegen der Studentenproteste in Anhui von Deng Xiaoping und Chen Yun abgesetzt wurde, widersprach Xi als einziger hoher Kader und setzte sich für Hu ein. Auch die Ereignisse von 1989 – insbesondere das Eingreifen der Volksbefreiungs-Armee gegen Arbeiter und Studenten – sah er mit kritischem Auge. Bereits 1988 zog sich der mittlerweile 75 Jahre alte Xi zurück und verbrachte seine Rentnerjahre in Shenzhen. Er starb 89 Jahre alt 2002.
Der ältere und der jüngere Xi
Xi Zhongxun in Ehren, aber was hat das alles mit der Gegenwart zu tun? Nun, Xi ist hinter Deng Xiaoping wohl die entscheidende Figur des modernen, prosperierenden Chinas. Zudem ist sein älterer Sohn Xi Jinping Partei-, Militär- und Staatschef Chinas. Der jüngere Xi hat wohl vom älteren Xi einiges gelernt. Der jüngere Xi lebte wohlbehütet sowohl im komfortablen Regierungsviertel Zhongnanhai – der neuen Verbotenen Stadt – als auch im Schweinekoben auf dem Land.
Ob die revolutionären Jahre des älteren Xi vor fast hundert Jahren dem jüngeren Xi als Ansporn und Vorbild dienen können, bleibt abzuwarten. Das erst angebrochene neue digitale Zeitalter wird es zeigen. Doch mutige Querdenker wie der alte Xi sind – trotz oder gerade wegen Algorithmen und künstlicher Maschinen-Intelligenz – auch heute gefragt. Mehr denn je. In China. Amerika. Der Schweiz. Überall.