Dieter Ammanns neues Klavierkonzert bedeutet für den Pianisten Andreas Haefliger beides: Anstrengung und Spass an der Sache. Er ist in Berlin geboren, in der Schweiz aufgewachsen und in den USA zu einem weltweit gefragten Pianisten geworden.
Es rumpelt tüchtig in der engen Seilbahn-Kabine, die in die Urner Berge hochschaukelt. Steil nach unten geht es auf der einen Seite, steil nach oben auf der anderen. Wer nicht schwindelfrei ist, durchlebt Torturen. Zwischendurch, in freier Landschaft, mal umsteigen, dann ruckelt die Bahn weiter. Immer höher …
Oben, in der Bergstation, steht Andreas Haefliger, Pianist und alles andere als ein Bergbauer, den man hier erwarten würde. Andreas Haefliger, in Berlin geboren, in der Schweiz aufgewachsen und in den USA zu dem geworden, was er heute ist: ein weltweit gefragter Pianist. Ruhig ist es hier oben, man hört den Wind, ein paar Vögel und den Kies unter den Füssen. Ein paar verstreute Häuser nur. Sonst der weite Blick über die Bergspitzen, und viel Himmel.
Piano in der Küche
Es ist Haefligers Refugium: Weit weg von allem. Und doch so nah am Tor zur Welt, dem Flughafen. Hier hat Andreas Haefliger ein neues Klavierstück studiert und geprobt, an dessen Entstehen er nicht unwesentlich beteiligt war: The Piano Concert (Gran Toccata) des Schweizer Komponisten Dieter Ammann, der an diesem Nachmittag ebenfalls mit der Seilbahn anreist.
Das elektronische Piano steht in der Küche, Zuhörer sind wieder die Vögel, allenfalls mal eine Ziege oder Kuh. Was sie zu hören bekommen, ist gewaltig. Ein Musikstück, das unter Haefligers Händen zu einem Orkan aufbraust, bei dem es beim Zuhören kein Entrinnen gibt. «Hier ein bisschen mehr, dort ein bisschen weniger, diese Noten vielleicht noch schneller …?» Haefliger und Ammann gehen völlig auf in ihrer temperamentvollen, gemeinsamen Arbeit an dem Stück. Mich, als passive Zuhörerin, reisst es genauso mit.
Das ist nun mehr als zwei Jahre her und Corona war damals noch kein Thema. Dieter Ammann ist der Komponist. Anstifter war allerdings Andreas Haefliger.
Wie alles angefangen hat
Die beiden hatten sich an der Geburtstagsfeier von Michael Haefliger, dem Bruder von Andreas, kennengelernt und Interesse aneinander gefunden. Ein Konzert mit Werken von Ammann im Klangforum Wien hat dann sozusagen den Stein ins Rollen gebracht. «Das Konzert war sensationell», sagt Haefliger, «und weil ich interessiert bin, neue Sachen zu bauen, zu sehen, zu träumen …, habe ich Dieter gefragt, ob er Zeit hätte für eine neue Komposition. Und Dieter sagte: nein!» Das hinderte Andreas Haefliger nicht daran, weiter zu diskutieren, was sich wieder über drei Jahre hinzog. Als schliesslich BBC, das Boston Symphonic Orchestra, der Musikverein Wien und auch das Lucerne Festival ihre Unterstützung bei dem Projekt zugesagt hatten, begann Ammann mit der Arbeit. Es war ihm klar, dass es lang dauern würde, da für Ammann schon ein Klavier so etwas wie ein kleines Orchester darstellt, dazu kommt nun noch ein gross besetztes Orchester.
Eine Klang-Explosion
Für Andreas Haefliger war die geplante Komposition ein Herzenswunsch. «Dieters musikalische Sprache hat mich sehr inspiriert», sagt Haefliger. «Er schreibt modern, auch intellektuell und doch ansprechend. Es ist ein einzigartiges Werk geworden! Es ist ein sehr dichter Klaviersatz. Das Klavier spielt andauernd und ebenso andauernd kämpft es gegen ein grosses Orchester. Es ist eine Klang-Explosion von einer Dichte, die kaum vorstellbar ist in der Musik.»
Für Haefliger ist es allerdings auch ein gewaltiger Kraftakt, das Stück zu spielen. Wie ein Berg, der überwunden werden will, was ja nun wieder zu seiner Wohngegend hoch oben im Urnerland passt … «Es ist ein schnelles Stück über weite Strecken und Dieter benützt eine Tonsprache, die man als jazzig beschreiben kann.» Aber all dies mache es ja auch spannend.
Tour de force
Aus dem Duo Haefliger/Ammann ist mittlerweile ein Trio geworden. Viele Aufführungen des Ammann’schen Klavierkonzerts mit Andreas Haefliger am Piano werden von der finnischen Dirigentin Susanna Mälkki geleitet. Und Mälkki schwärmt natürlich auch von diesem Werk, «bei dem man sich so rasant in die Kurven legen könne wie mit einem Sportwagen», so Mälkki. Eine richtige «tour de force» für Solist und Orchester sei es, mit vielen verschiedenen Stilelementen. «Ein ausserordentliches Stück, einfach phantastisch. Wie eine grosse Party», resümiert Mälkki.
Zu Beginn hat Corona einen dicken Strich durch die ersten Aufführungen des Werkes gemacht. So auch beim Lucerne Festival, das wegen der Pandemie nicht stattfand. Mit dem Wiederaufleben des Kulturbetriebes kam «The Piano Concert» dann endlich zur Uraufführung. Und dies an keinem geringeren Ort als an den Londoner Proms, was man als Auszeichnung sondergleichen bezeichnen kann, zumal auch die Kritiker begeistert waren.
Anspruchsvoll für Interpreten
Jetzt – endlich – wird es auch am Lucerne Festival aufgeführt. Da es ein neues Stück ist, kann man sich fragen, ob in den Aufführungen, die es seither gab, auch etwas am Stück geändert wurde. Dazu Dieter Ammann, der Komponist: «Einzig gewisse sehr hohe Tempi haben wir im Laufe der Probenarbeit und der Konzerte etwas zurückgenommen. Die lange Entstehungszeit meiner Stücke ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass ich wirklich alles, was ich notiere, auch genau durchdacht und oft sogar ausprobiert habe. Die Musik stellt zwar grosse Ansprüche an die Interpreten, aber grundsätzlich ist alles spielbar.»
Andreas Haefliger ergänzt: «Nicht das Stück, aber die Interpretation verändert sich natürlich ständig. Im Moment, vor allem in den Kadenzen, da kann ich Farben, Tempi, Fermaten frei interpretieren. Die vielen Momente zusammen mit dem Orchester sind da weniger flexibel. Da sind Orchester und ich Teil des vom Dirigat gesteuerten Ganzen.»
Was ist anders als zu Beginn?
Immer wieder ist Ammann natürlich auch Zuhörer seines eigenen Konzerts. Ist er da ein guter Zuhörer? Fiebert er mit oder kann er es entspannt geniessen? «Nervös bin ich immer nur am Anfang der ersten gemeinsamen Probe, also wenn ich ein Orchester oder eine Solistin das erste Mal erlebe. Da spürt man sofort, ob sie mit Herzblut dabei sind oder Dienst nach Vorschrift machen …» Dann schränkt er aber sofort ein: «Diesbezüglich habe ich allerdings in den letzten zwei Jahrzehnten keine bösen Überraschungen erlebt. Im Konzert selbst bin ich dann nicht mehr nervös und kann die Aufführung ruhig und aufmerksam in mir aufnehmen.» Inzwischen ist das Werk schon etliche Male aufgeführt worden. Weitere Aufführungen und Länderpremieren stehen bevor. «Wie es aussieht, ist das Stück auf dem Weg, ein fester Bestandteil des Konzert-Repertoires des 21. Jahrhunderts zu werden – etwas, das jedem Komponisten, jeder Komponistin viel bedeutet», freut sich Dieter Ammann.
Und wie waren die Reaktionen auf das Klavierkonzert bisher? «Begeistert und überwältigt», sagt Andreas Haefliger, der schliesslich als Pianist immer dabei war … Nach der langen Vorbereitungszeit und den bisherigen Konzerten, sieht Andreas Haefliger heute anders aus: Die Lockenpracht ist etwas länger und mit Silberschimmer statt schwarz. Eine Folge der höchst herausfordernden Konzerte mit Ammanns Werk? Haefliger winkt ab: «Der neue Look hat sich während des Lockdowns auf ganz natürliche Weise entwickelt. Es fühlt sich richtig an und passt zur Weltanschauung und zu meinem Selbstgefühl. Mit Dieters Stück hat das in diesem Sinne nichts zu tun ...»
Die Freude, mit der die beiden nun endlich das Werk beim Lucerne Festival im KKL präsentieren können, hat allerdings durchaus mit Dieter Ammanns Piano Concert zu tun.
Dieter Ammann: «The Piano Concert» (Gran Toccata)
Andreas Haefliger, Klavier
Susanna Mälkki, Dirigentin
Helsinki Philharmonic Orchestra
Lucerne Festival, 30 August 2022