Ganz still ist es im Kreuzgang des Collegio Papio in Ascona. Kein Vogelgezwitscher mehr in dieser spätsommerlichen Jahreszeit, die letzten Töne der Musikprobe in der Kirche sind verklungen, es ist sonnig und warm, ein Hauch von Süden liegt in der Luft und eine leichte Brise.
«Dieses Stück ist ein Kraftwerk ….», sagt Markus Hinterhäuser und er meint das Werk, von dem man eben noch die letzten Klänge von drinnen gehört hat. Und jetzt sitzen wir auf der Bank im Kreuzgang. Markus Hinterhäuser ist Pianist und spielt am Abend «Visions de l’Amen», ein Stück für zwei Klaviere des französischen Komponisten Olivier Messiaen aus dem Jahre 1943. Sein Piano-Partner an diesem Abend ist Francesco Piemontesi. Beide Pianisten sind zugleich auch Intendanten. Francesco Piemontesi leitet die «Settimane musicali» in Ascona/Locarno, Markus Hinterhäuser ist Intendant der grossen «Salzburger Festspiele».
Ganz schön viele Noten
Zwei Intendanten, die Klavier spielen. «Das ist doch schön …», sagt Hinterhäuser. «Francesco ist ein wunderbarer Pianist, der oft in Salzburg aufgetreten ist und ich mag ihn sehr. Er fragte mich, ob ich Lust hätte, dieses Stück von Messiaen mit ihm und bei ihm in Ascona zu spielen. Ich habe es vorher schon einige Male zusammen mit Igor Levit gespielt und das wurde auch aufgezeichnet. Das hat Francesco gefallen und wir haben das Konzert für Ascona abgemacht.»
So ist es zu Markus Hinterhäusers erstem Auftritt in Ascona gekommen. «Manchmal ist das für mich auch eine Befreiung …», fügt er an. Weil er dann für nichts verantwortlich ist, sondern «nur» Klavier spielen muss …? «Also, bei Messiaen gibt es ganz schön viele Noten zu spielen …», wirft er ein, lacht, und man ahnt schon, dass dieses Stück kein Leichtes sein wird, und zwar für Publikum und Interpreten gleichermassen. «Es ist ein Teil der grossen Literatur für Klaviermusik», erklärt Hinterhäuser.
Zwei Flügel auf der Bühne, zwei Pianisten in einem musikalischen Dialog. «Dem ersten Klavier habe ich die rhythmischen Schwierigkeiten anvertraut, die Akkord-Trauben, alles, was Schnelligkeit, Charme und Klangfarbe betrifft. Das zweite Klavier übernimmt die melodische Führung, die thematischen Elemente, alles, was Emotion und Kraft ausstrahlt.» So erklärt Messiaen den Aufbau seines Werkes. «Ich habe versucht, diese so verschiedenen Reichtümer des ‘Amen’ in sieben musikalischen Visionen auszudrücken – und damit zusammenhängend das Leben der Kreaturen, die allein durch das Schicksal ihrer Existenz schon ‘Amen’ sagen», schreibt Messiaen zu seinem Werk und meint damit zum Beispiel das Schöpfungs-Amen, das Amen der Sterne und Planeten, oder das Amen von Jesu Leiden.
Wie eine Explosion
Das klingt recht schwierig, wenn man Messiaens Erklärungen liest. Und Markus Hinterhäuser sagt: «Es hat etwas von einem Bekenntniswerk. Messiaen war ein ausserordentlich religiöser Mensch und dem Katholizismus sehr verbunden und zugetan. Es ist eine starke Art von Existenzsuche, von metaphysischer Suche. Ein Kraftwerk. Wie eine Explosion …» Und genau das ist es am Abend.
Piemontesi und Hinterhäuser schmeissen sich in die Noten und vom ersten Moment an ist man gefesselt von diesen Klängen. Dieses Tempo, diese rhythmischen Sprünge, diese musikalischen Ausbrüche, diese Ekstase … es wird einem ganz anders in dieser rauschhaften Klangwolke, aus der es kein Entrinnen gibt. Verzweiflung, Hoffnung, Schmerz, in all’ das werden wir hineingezogen und leiden und hoffen gemeinsam mit den beiden Pianisten, die sich völlig verausgaben.
Ein unglaubliches Musikerlebnis, spannend, mitreissend, atemlos und aufwühlend ..., das am Schluss in tosenden und befreienden Applaus mündet.
«Ja, ein ganz schön intensiver Kraftakt war das», meint Hinterhäuser später.
Kultur kann man nicht managen
Seit fünf Jahren ist Markus Hinterhäuser Intendant der Salzburger Festspiele und sein Vertrag ist bis 2026 verlängert worden. Mit Salzburg ist er allerdings schon länger verbunden: als Student am Mozarteum, später als Gründer des Zeitfluss-Festivals in Salzburg, dann erst als Übergangs-Intendant in Salzburg, ab 2017 dann als definitiver Intendant der Festspiele.
«Der Intendant ist mir ja einfach zugefallen, das war in meinem Leben nicht so geplant», sagt er. «Dass ich es aber nun mache, ist ein grosses Privileg in meinem Leben, aber es war nicht das, was ich mir vorgenommen hatte. Ich habe es auch nie gelernt.» Kann man denn so etwas überhaupt lernen? «Nein, ich glaube nicht», sagt er sofort. «Gewisse Parameter kann man lernen und muss man in gewisser Weise auch verinnerlichen. Es gibt ja jetzt dieses Phänomen des ‘Kulturmanagers’. Diese Ausbildung ist im Moment sehr angesagt. Ich habe das nie gemacht und verstehe mich auch nicht als Kulturmanager. Ich finde, Kultur kann man nicht managen. Ich habe aber eine grosse Struktur um mich herum, die zielgerichtet gewisse Aspekte dieser Arbeit sehr gut erfüllt. Ich empfinde das, was ich mache, als eine künstlerische Aufgabe und wenn ich es nicht mehr so empfinde, höre ich auf.»
Öffnung zum Anspruchsvollen
Zunächst aber setzt er sich – auch als Intendant - immer wieder mal gern selbst ans Klavier. Nicht nur, aber vor allem in Salzburg, und nun auch in Ascona, einem vergleichsweise kleinen Festival. «Es ist gut, wenn man die Bühne und das Publikum ab und zu auch als Pianist erlebt. Ich finde, das ist alles andere als ein Nachteil. Für mich ist das sehr vitalisierend, denn Salzburg ist ausserordentlich fordernd.»
Francesco Piemontesi, der Tessiner Intendant, kennt Salzburg dagegen nur aus der Künstler-Perspektive. «Markus Hinterhäuser und ich teilen aber die gleichen Erfahrungen als Festival-Leiter und Pianist. Ich glaube, das gibt es jetzt immer öfter, dass künstlerische Leiter auch Teil des Programmes sind, das sie gestalten. Hier in Ascona geht das gut auf. Das Publikum hat ein gewisses Vertrauen in mich als Pianist entwickelt und folgt mir auch, wenn ich etwas Ungewöhnliches programmiere.»
Für ihn besteht Musik aus verschiedenen Sparten und aus verschiedenen Richtungen, nicht nur aus verschiedenen Epochen. «Es gibt natürlich neben den zugänglicheren Stücken auch kompliziertere, anspruchsvollere. Genau wie Bilder und Bücher. Ich finde, es gehört auch zu meinen Aufgaben, diesen Teil der Musik einem weiteren Publikum zu öffnen, zumal wir meiner Meinung nach im Konzertbetrieb eine Tendenz zum Einfachen erleben. Wenn ich sehe, was Ernest Ansermet in den 50-er Jahren für Programme mit dem Orchestre de la Suisse Romande gespielt hat, dann sind wir geradezu rückständig. Alles geht in Richtung ‘populär’.» Dieser Tendenz versucht Piemontesi etwas Gegensteuer zu geben.
Und wenn die Intendanten aus Salzburg und Ascona mit Stücken wie Messiaens «Visions de l’Amen» zusammenspannen, werden auch Skeptiker der neueren Musik zu Fans. Der Abend in Ascona war der Beweis.
Settimane musicali Ascona, noch bis 8. Oktober 2021
www.settimane-musicali.ch