Im Parlament von Bagdad ist Streit ausgebrochen. Es kam zu Faustschlägen. Der bisherige Sprecher des Parlamentes hat die Versammlung vorläufig geschlossen, «um das Prestige des Parlamentes zu schützen und um offenen Streit zu verhindern», wie er sagte. Doch der Streit geht soweit, dass unklar ist, wer für das Parlament sprechen kann.
Es gibt einen zweiten Kandidaten als Sprecher, und der hat auf Donnerstag eine Parlamentssitzung anberaumt. Der bisher eigentliche Sprecher, Selim al-Jabouri, hält zu Ministerpräsident Haidar al-Abadi, während sein Rivale, Adnan al-Janabi, von einer knappen Mehrheit von 170 Abgeordneten neu für dieses Amt bestimmt wurde. Die ganze Versammlung besteht aus 328 Abgeordneten. Die 170 sind der Ansicht, der bisherige Sprecher, al-Jabouri, sei vom Parlament abgewählt worden. Es gab in der Tat eine Abstimmung in diesem Sinne. Sie war chaotisch. Al-Jabouri erklärt, sie sei ungültig, weil das Quorum gefehlt habe.
Streit über die Regierungsumbildung
Der Streit, der das Parlament spaltet und handlungsunfähig zu machen droht, geht um die Reformen. Solche werden seit langer Zeit angestrebt. Eigentlich schon seit der Einsetzung al-Abadis im September 2014. Sie sollen dazu dienen, die monumentale Korruption und Handlungsunfähigkeit in den irakischen Ministerien zu reduzieren.
In den jüngsten Wochen war Ministerpräsident al-Abadi unter verstärkten Druck gekommen, etwas wirklich Entscheidendes gegen die Korruption in den Ministerien zu unternehmen. Die Anhänger Muqtada Sadrs, das sind Millionen von Bewohnern der schiitischen Elendsquartiere von Bagdad, waren vor die Grüne Zone gezogen und drohten in sie einzudringen, wenn nicht sofort eine Regierung von ehrlichen Technokraten in die Ministerien einziehe.
Die Grüne Zone ist der befestigte Stadtteil, von dem aus die Amerikaner den Irak mehr ruinierten als regierten. Heute befinden sich dort das Parlament, viele Ministerien, die fremden Botschaften und der Sitz des Präsidenten. Die Sadr-Anhänger waren bisher im Parlament wichtige Stützen des Ministerpräsidenten gewesen. Al-Abadi gab ihrem Druck nach und ernannte eine neue Technokratenregierung. Doch diese stiess im Parlament auf den Widerstand der irakischen Parteien.
Die Parteiführer sagten, sie seien zur Regierungsbildung Abadis nicht konsultiert worden. Der Ministerpräsident erklärte seinerseits, er habe die Parteien befragt und aufgefordert, Technokraten vorzuschlagen, die ihnen genehm seien. Doch die Parteiführer und ihre Abgeordneten hätten nicht reagiert. Deshalb habe er selbst die neue Regierung bestimmt.
Parlament für bindenden Regierungsproporz
Der Widerstand im Parlament zwang den Ministerpräsidenten jedoch, seine erste Regierungsliste zurückzuziehen und eine zweite zu formulieren, in der nur noch einige wenige der zuvor bestimmten Technokraten verblieben – und auch sie nur in den bedeutungsloseren Ministerien.
Dennoch schritten die Parteien zu einem Gegenangriff auf den Präsidenten. Sie formulierten einen Gesetzesvorschlag, der den Proporz der Ethnien und Religionsgemeinschaften innerhalb der irakischen Regierung obligatorisch machen sollte. Dieser Proporz war bisher informell gehandhabt worden. Man hielt sich daran, dass die Schiiten, die Sunniten sowie die Kurden und die Araber ihre Vertretungen erhielten, so weit möglich im Verhältnis zur Grösse ihrer Gruppierungen. In der politischen Praxis war dies darauf hinausgelaufen, dass die Schiitenparteien die bedeutendste Vertretung erhielten und die Kurden die zweitwichtigste. Beide zusammen bildeten eine absolute Mehrheit.
Demnach waren die Sunniten zwar auch vertreten, jedoch ohne wirkliche Macht, weil sie von den beiden anderen Gruppen überspielt werden konnten und überspielt wurden. Doch immerhin ermöglichte dies eine einigermassen flexible informelle Regierungsbildung. Der neue Gesetzesvorstoss dagegen wollte eine legal bindende Proporzregel.
Ministerien als Einnahmequellen
Hinter der Vorliebe für den «kommunalen Proporz», wie man diese Regel nennen könnte, stehen Geldinteressen. Die Ministerien handhaben Geld. Einst war es im Überfluss da, als der Ölpreis hoch lag. Nun ist es knapp geworden, und daher umso begehrter, weil der Erdölpreis absank. Die Gelder der Ministerien werden teilweise, manchmal zu grossen Teilen, abgeleitet in die Kassen der Gruppierungen und Gemeinschaften, welche «die Ministerien innehaben».
Wer das ist, bestimmt in erster Linie der Minister, weil dieser seine Gefolgsleute aus der eigenen Gemeinschaft und seine Klientel mitbringt. Die schiitischen Parteien des Südens, die eigene Milizen stellen und finanzieren, bekommen Gelder zugespielt durch «ihre» Minister. Sie finanzierten sich sogar weitgehend durch die Korruption in den Ministerien.
Die einträglichsten Geldquellen sind: Erdölministerium, Ministerium für Verteidigung und Sicherheit, Finanzministerium. Aber auch in allen anderen lassen sich Geschäfte machen. Die Parteien wollten diese Geldquellen natürlich nicht aufgeben. Vielmehr versuchten sie, diese über das neue Gesetz zum Proporz der Gemeinschaften abzusichern.
Doch es gab im Parlament auch eine knappe Mehrheit von Abgeordneten, 170 von einem Total von 328, die der Ansicht waren, sie seien nicht genügend an den Geldflüssen beteiligt, oder auch, die Korruption müsse wirklich bekämpft werden. Diese Leute erhoben sich gegen die Nachgiebigkeit des Ministerpräsidenten, als dieser auf seinen ersten Regierungsvorschlag mit den Technokraten verzichtete oder verzichten musste. Sie ergriffen die Initiative, um den Parlamentssprecher seines Amts zu entheben, als dieser versuchte, die zweite Regierungsliste al-Abadis im Parlament zum Durchbruch zu bringen. Auch Muqtada Sadrs Anhänger im Parlament befanden sich unter den 170 "Rebellen" gegen die bisherige Ordnung.
Al-Maliki gegen al-Abadi
Die Kämpfe um Geldquellen oder gegen Korruption werden jedoch überlagert von persönlichen Gegensätzen. Alt-Ministerpräsident, Nuri al-Maliki, sucht Rache zu nehmen an al-Abadi, der ihn ersetzt und kürzlich auch, um Geld zu sparen, von seinem Trost-und Ehrenposten als Vizeministerpräsident abgesetzt hat. Deshalb koordiniert Al-Maliki aus dem Hintergrund den Widerstand gegen den amtierenden Ministerpräsidenten al-Abadi, indem er erklärt, dieser sei zu schwach, um die Korruption zu bekämpfen.
Was Maliki natürlich nicht sagt, ist, dass unter seinem Regime, das von 2006 bis 2014 dauerte, die Korruption institutionalisiert wurde und um sich griff wie noch nie zuvor. Das waren Zeiten der hohen Erdölpreise, und es gab viel Geld, das an alle richtig postierten Interessenten zu verteilen war.
Al-Maliki ist gegenwärtig bemüht, die Opposition im Parlament gegen al-Abadi zu koordnieren und auszubauen. Ob er ihn zu Fall bringen wird, bleibt abzuwarten. Was als gewiss gelten muss, ist, dass die Kämpfe im Parlament ablenken von dem Krieg gegen den IS, den der irakische Staat mit Hilfe der Amerikaner und der Iraner eigentlich führen wollte und sollte.