Ernst zu nehmende Berichte wollen wissen, dass ein Teil der im vergangenen November gefangen gesetzten saudischen Prinzen – Millionäre und Milliardäre – gefoltert wurden, um sie zu zwingen, Teile ihrer Vermögen an den Staat abzutreten. Die Aktion wurde unter dem Vorwand der Korruptionsbekämpfung durchgeführt, und der Kronprinz Muhammed bin Salman (MbS) war ihr unbestreitbarer Urheber und Nutzniesser.
Entlassung nach Zahlung
Offiziell wurde in Saudi-Arabien mitgeteilt, 381 Personen seien am 4. November 2017 und in den darauf folgenden Tagen in dem als ein Luxusgefängnis verwendeten Ritz Carlton Hotel in Riad interniert worden. Doch nur die Namen von rund dreissig der Festgenommenen wurden bekannt. Unter ihnen befanden sich weltbekannte Milliardäre und Prinzen des königlichen Hauses.
In der Zwischenzeit hat das Hotel seinen Normalbetrieb wieder aufgenommen. Nach den Angaben der Behörden wurden seit dem 4. November über 300 Internierte entlassen, nachdem sie Teile ihres Vermögens an den Staat abgetreten hätten. 51 sollen sich noch in den Gefängnissen befinden. Wo, ist unbekannt, im Ritz Carlton kann es nicht mehr sein.
Weit divergierende Zahlenangaben
Regierungssprecher behaupteten, die Aktion habe dem Staat 106 Milliarden Dollar eingebracht. In den ersten Tagen nach den Festnahmen hatte es geheissen, der Staat erwarte 800 Milliarden Gewinn von seiner „Anti-Korruptionsaktion“. Diese Summe wurde 10 Tage später reduziert auf 300 bis 400 Milliarden, dann auf die erwähnte meistgenannte Summe von „nur“ 106 Milliarden. Doch das saudische Finanzministerium gab bekannt, es erwarte, dass von den angeblichen 106 Milliarden 13,3 Milliarden bis Ende dieses Jahres in die Staatskasse fliessen würden, um mitzuhelfen, das Staatsdefizit von 52 Milliarden auszugleichen.
Finanzexperten erklärten diese Unstimmigkeiten damit, dass viele der abgetretenen Werte – Beteiligungen an Grossgeschäften, Aktien, Land- und Hausbesitz und anderes mehr – zuerst verkauft werden müssten, bevor der Staat Geld einziehen kann. Der Vorgang könne Jahre lang dauern.
Die saudische Börse fiel angesichts der neuen Ungewissheiten. Neben den Festgenommenen, deren Besitz und Konten gesperrt wurden, gab es auch eine unbekannte, jedoch vermutlich beträchtliche Zahl von Individuen, deren Bankkonten auf Befehl der Regierung eingefroren wurden. Auch die Banken in Kuweit und in Bahrain erhielten von ihren Regierungen Listen der Namen von saudischen Geschäftsleuten, deren Konten bei ihnen zu blockieren seien. Noch andere Geschäftsleute erhielten Anrufe von der vom König ernannten Untersuchungskommission mit Anfragen über ihre Vermögensverhältnisse.
Weiterhin unter Druck
Die Entlassenen kamen, wie aus ihren Familien verlautete, nicht vollständig frei. Manche müssen elektronische Fussfesseln tragen und sollen, wie erzählt wird, diese mit Kissen überdecken oder mit lautem Radiolärm übertönen, bevor sie mit ihren Familien sprechen. Sie nehmen an, die Fussfesseln könnten nicht nur ihren Aufenthaltsort, sondern auch ihre Gespräche registrieren. Manche sagen, sie wüssten nicht einmal, ob ihre Häuser und Wohnungen, in die sie zurückkehren durften, noch ihnen gehörten oder nicht mehr. Alle erhielten offenbar Ausreiseverbot. Ebenso ihre Frauen und Kinder. Doch es gibt einige Prinzen, die schon vor dem 4. November ins Ausland gereist waren. Sie sollen zur Zeit Aufforderungen erhalten, heimzukehren und sich mit den „Antikorruptions“ Behörden zu verständigen.
Spurlos verschwunden
Kurz vor dem Festnahmen vom 4. November wurden in Riad und anderen Städten 60 Intellektuelle verhaftet, islamische Geistliche, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Dichter. Sie sind verschwunden, und niemand weiss, was mit ihnen geschah. Wahrscheinlich handelte es sich um Personen, die als kritisch gegenüber dem Kronprinzen eingestuft wurden.
Nach der Verhaftungswelle vom 4. November kam es zu einer Säuberung in der Armee und unter den Sicherheitskräften. Viele der bisherigen Kommandanten wurden entlassen und durch jüngere Offiziere ersetzt. Auch die Regierung wurde umgebildet, und einige der Vettern des Kronprinzen erhielten Ministerposten, während andere Provinzgouverneure wurden. Diese Schritte wurden damit gerechtfertigt, dass eine neue, jüngere Generation an die Macht kommen solle.
Spitalaufenthalte
Am 12. November sickerte zum ersten Mal durch, dass einige der im Ritz Inhaftierten in Spitäler eingeliefert werden mussten, weil sie Wunden aufwiesen, die auf Misshandlungen bei ihren Verhören zurückgingen. Es hiess, die Folterer hätten vermieden, ihre Opfer im Gesicht zu verletzen, damit die Spuren der Misshandlungen nicht zu sichtbar würden. Den Berichten nach wurden manche der Verhöre im Ritz Carlton so durchgeführt, dass die Angeschuldigten mit verhüllten Köpfen ihren Anklägern gegenüber sassen, so dass sie sie nicht sehen konnten.
Durchgesickerte Misshandlungsberichte
Derartige Meldungen präzisierten sich in den folgenden Tagen und Wochen. Die Rede war von 17 Personen, die Folterspuren aufweisen sollen und von einem Toten. Human Rights Watch führte eine Untersuchung durch und veröffentlichte einen Bericht. Die Website „Middle East Eye“ meldete vergleichbare Fälle, und die New York Times veröffentlichte einen ausführlichen Bericht, den vier ihrer Journalisten unterzeichneten, in dem die mutmasslichen Folterungen erwähnt und Interviews mit Quellen und Familienmitgliedern erwähnt wurden. Die saudischen Behörden haben diese Anschuldigungen energisch dementiert. Doch aus der Luft gegriffen sind sie wahrscheinlich nicht. Diplomaten von zwei westlichen Staaten sollen nach den Angaben der New York Times die Anschuldigungen für wahrscheinlich halten.
Nach „saudischem Gesetz“
Der saudische Staatsanwalt Saud al-Mojeb erklärte, sämtliche Angeklagten und Festgenommenen würden gemäss ihrem vollen Recht nach dem saudischen Gesetz behandelt. Allerdings besteht grosse Unklarheit darüber, ob und unter welchen Umständen das saudische Recht Folter erlaubt. Kein Zweifel besteht darüber, dass die Todesstrafe in Saudi Arabien häufig, bedenkenlos und ohne die rechtlichen Garantien, die in anderen Staaten üblich sind, angewandt wird.
Vertrauensmann eines früheren Königssohns
Das angeblich durch Folter getötete Opfer soll Generalleutnant Ali al-Qahtani sein. Der General war selbst nicht reich, doch er diente als die Rechte Hand von Turki ben Abdallah, einem der Söhne des 2015 verstorbenen Königs Abdallah. Personen, die seine Leiche gesehen haben, sollen ausgesagt haben, sein Nacken sei unnatürlich verbogen gewesen, wie wenn er gebrochen worden sei, und sein Körper habe Spuren von elektrischen Schlägen aufgewiesen. Der Generalleutant war unter den 17 Personen gewesen, die schon Anfang November in Spitäler eingewiesen wurden, doch er soll später nach dem Carlton Ritz-Gefängnis zurückgebracht und neuen Verhören unterzogen worden sein. Seine Leiche befand sich schliesslich in einem Militärspital. Darüber, wie es zu seinem Tod kam, gibt es keinerlei offizielle Aussagen.
Abrechnung mit den früheren Machtaspiranten
Die Söhne des verstorbenen Königs Abdullah, des Vorläufers des gegenwärtigen Herrschers Salman, waren offenbar besondere Ziele der „Antikorruptionsaktion“. Einige sollen noch festgehalten werden. Der verstorbene König Abdullah hatte 34 Töchter und Söhne. Einer von ihnen, der frühere Oberkommandant der Nationalgarde, Prinz Muteb ben Abdullah, der von dem Kronprinzen am 4. November entlassen und zusammen mit mehreren seiner Brüder festgenommen worden war, galt zur Zeit König Abdullahs als ein möglicher Kronprinz. Das heisst, er befand sich in einer vergleichbaren Machtstellung wie jener, die Prinz Muhammed ben Salman (MbS) zur Zeit als Kronprinz des gegenwärtigen Herrschers einnimmt. Muteb wurde Ende November gegen die Abtretung von – dem Vernehmen nach – einer Milliarde Dollar aus der Haft entlassen. Eine der saudischen Zeitungen schrieb, es seien 10 Milliarden Dollar gewesen. Doch mehrere seiner Brüder, darunter Prinz Turki, werden weiter festgehalten, wo und wie ist nicht bekannt.
Die Vettern des Kronprinzen und Söhne des vorausgehenden Herrschers sind offenbar besondere Ziele der „Antikorruptions“-Kampagne, ohne Zweifel weil sie vor der Machtergreifung des gegenwärtigen Kronprinzen und starken Mannes des Königreiches als seine möglichen Rivalen erschienen.
Der Familien-Waqf – Korruption?
König Abdullah soll einen Sonderfonds von Milliarden eingerichtet haben, der im Zeichen einer wohltätigen Stiftung stand, aber gleichzeitig als „Sparbüchse“ seiner Söhne und Töchter diente. Dies – der Familien-Waqf – ist eine traditionelle Einrichtung wohlhabender muslimischer Familien. Sie hat über Jahrhunderte dazu gedient, Familienvermögen gegen Konfiskation durch die staatlichen Machthaber abzusichern, indem sie diese als „unveräusserliche fromme Stiftung“ (Waqf) erklärte, deren Produkte (Zinsen verboten, aber Gewinnbeteiligung nicht) teilweise für den Unterhalt von Nachfahren des ursprünglichen Stifters reserviert wurden.
Nach dem Tod König Abdullahs soll Prinz Turki zur Verteilung des Vermögens der Stiftung geschritten sein. Jeder seiner Brüder erhielt dem Vernehmen nach 340 Millionen Dollar, die Schwestern jeweils 200 Millionen. Die Kinder des vorigen Königs sehen dies als ihr Erbe an. Doch der Kronprinz ist offenbar bemüht, diese Summen ganz oder teilweise als „korruptes Geld“ für den Staat einzuziehen, über dessen Gelder er letzten Endes nach seinem Ermessen verfügt.
Was ist „Korruption“ in Saudi Arabien?
Man muss derartige „institutionelle“ Hintergründe einigermassen kennen, um zu verstehen, dass der Begriff „Korruption“, wie er nun als Erklärung und Beschönigung der Vorgänge angewandt wird, nichts anderes ist, als ein Scheinbegriff. Er wird als Vorwand benutzt, um unter den im Königreich bestehenden Umständen des unlösbaren Zusammenhanges von Macht und Reichtum sowie Machtverlust und Enteignung eine Kulisse von wirtschaftlichen Verhältnissen aufzubauen, die benötigt wird, um das Königreich und seine Finanzen der äusseren Form nach in das globalisierte Welt-Finanzwesen einzufügen.