Der Anblick von Stühlen am Ufer des Zürichsees und die Lektüre eines Artikels über die Lehrerausbildung in der Schweiz lassen den Autor (alb-)träumen. Ein heftiger Sturm ist angesagt. Aus Vorsicht beschliesse ich, den Morgenspaziergang vom Küsnachter Wald an den See zu verlegen. Um diese Zeit gehört das Ufer den Vögeln.
Begleitet von den heiseren Rufen der Blesshühner vollführen die Möwen kühne Flugmanöver. Mit wahrer Lust lassen sie sich von den Windböen in die Lüfte katapultieren und wieder fallen, um schliesslich ihren Sturz mit sparsamem Flügelschlag abzubremsen und sich am Rand des Kiesdeltas, das der Dorfbach in den See hinausgebaut hat, niederzulassen.
Doch heute müssen sie den Platz am Wasser mit andern teilen, mit einer besonderen Art von roten Vierbeinern, welche, zu Gruppen formiert, stumm auf den See hinausschauen und nicht den Anschein erwecken, schwimmen oder gar fliegen zu können. Wären sie Menschen, könnte man meinen, die Kursleiterin hätte ihnen heute Morgen die Lösung eines kniffligen Problems aufgetragen, das sie nun, eifrig und pflichtbewusst, in Gruppen zu lösen versuchen.
Rote Stühle am Ufer! – Ich komme ins Grübeln und frage mich: Was ist eigentlich ein Stuhl? Was ist das Gemeinsame hinter einem Gartenstuhl, Lehnstuhl, Liegestuhl, Schaukelstuhl, Klappstuhl, Coiffeurstuhl. Rollstuhl, Kinderstuhl oder Nachtstuhl?
So unterschiedlich Stühle auch aussehen mögen, schon ein Kind lernt, was ein Stuhl ist, weiss ihn zu unterscheiden von einem Tisch oder einem Bett. Nur, reicht das aus für eine Welt, in der nach Gerechtigkeit und Gleichheit gerufen wird? Wenn man obige Aufzählung von Stühlen betrachtet, muss man befürchten, es herrsche das Gesetz der Beliebigkeit und jeder könne sich Stuhl nennen, wenn es ihm passe.
Doch wehret den Anfängen! Wenn sich schon die Stühle nicht von Nichtstühlen abzugrenzen wissen, dann wird sich eines Tages irgendeiner die Bezeichnung Metzger, ein anderer Tapezierer, Banker, Pfarrer oder gar Epidemiologe anmassen. Schlimmer noch: Bald auch wird sich jedermann Schweizerin oder Schweizer nennen, nur weil sie oder er hier wohnt oder das Land einmal bereist hat. Doch das darf nicht sein! Die Zeiten sind vorbei, wo ein J. F. Kennedy ohne genauere Abklärung der Rechtslage ausrufen konnte: «Ich bin ein Berliner!» Wir brauchen Sicherheit in einer unsicher gewordenen Zeit!
Zumindest für die Stühle bietet Wikipedia erste Hilfe: « Ein Stuhl ist ein in vielen Varianten ausgeführtes Sitzmöbel für (meist) eine Person, das sich in der Regel aus einem Fussgestell, einer einfachen oder gepolsterten Sitzfläche und einer Rückenlehne zusammensetzt und sich von dem einfachen Schemel ohne Lehne und dem gepolsterten Armsessel unterscheidet.»
Ist das auch sicher genug? Wie steht es mit dem Dachstuhl, dem Lehrstuhl, Fahrstuhl, Beichtstuhl und dem heiligen Stuhl? – Ich hoffe, Brüssel hat sich diesem Wissensvakuum bereits angenommen und, wie für Äpfel, Birnen, Bananen und Apfelschorle, die nötigen Definitionen erlassen ...
Beruhigt vom Gedanken an Brüssel verlasse ich die Stuhlgruppen am Küsnachter Horn, gehe nach Hause zum Kaffee und habe am Abend die Stühle vergessen. Vor dem Einschlafen surfe ich noch ein bisschen durchs Internet und finde bei Journal21 den Artikel von Kollege Carl Bossard «Weniger Bildungspathos, bitte!», in dem der Autor das sprachliche Imponiergehabe im Bildungswesen anprangert und nach mehr Bescheidenheit ruft. Vielleicht erklärt diese Lektüre so kurz vor dem Einschlafen das Drama der folgenden Nacht:
Im fahlen Licht des durch leichten Nebel verschleierten Mondes schleiche ich mich voller Neugierde zurück ans Küsnachter Horn. Dort haben sich heimlich alle Stühle, die tagsüber – ohne Argwohn zu erwecken – in Gruppen zwischen Ermitage und Zehntenhaab am See stehen, zu einer Vollversammlung zusammengerottet, zur Konferenz der Stühle. Als ich mich nähere, höre ich eine laute Stimme in triefendem Pathos rufen:
«... in jener goldenen Zeit, als jedermann wusste, was ein Stuhl ist und wir uns alle in erster Linie als Stühle und nicht als Bürostuhl, Essstuhl oder Coiffeurstuhl identifizierten, war es noch schön und befriedigend, Stuhl-Lehrer zu sein. Doch ich frage euch, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo stehen wir heute? Wo sind die Zeiten geblieben, wo wir einfach allseits respektierte und geschätzter Stuhllehrer und noch nicht von Reglementen und tausend Stuhl-Lehr-Gängen umzingelt waren? Es wäre an der Zeit ...»
Da erhebt sich in der hintersten Reihe ein mächtiger Zahnarztstuhl und schwenkt drohend seinen Bohrerarm. Er möge still sein, der Ewiggestrige, der die Zeichen der heutigen Zeit nicht zu lesen wisse. Ein Fahrstuhl doppelt nach und ruft: «Wo kämen wir denn hin, wenn Stühle ohne vertiefte Fahrausbildung auf die Menschheit bzw. die Stuhlheit losgelassen würden! Es war höchste Zeit, differenzierte Lernprogramme für jeden einzelnen Stuhlgang – Entschuldigung: Stuhllehrgang – zu entwickeln. Die Sektion Fahrstühle ist mit dem guten Beispiel vorangegangen und hat für ihre Lehrerausbildung folgende Ziele festgelegt: Die Ausbildung zum Fahrstuhl unterstützt durch ihre konsequente Ausrichtung auf die Multidimensionalität Lehrmittel-gestützter Erfahrungshorizonte die facettenreiche Auseinandersetzung mit vielschichtigen Anwendungssituationen, welche die Lernenden durch rezeptives und kreatives Arbeiten zu vertikal-strukturierten Denkprozessen animieren und dadurch introspektive Prozesse ...»
Hier wird der Redner sanft, aber bestimmt durch einen mächtigen Lehrstuhl unterbrochen, der würdig nach vorne schreitet, so dass alle andächtig verstummen:
«Es ist ja lobenswert, liebe Stuhllehrerinnen und –lehrer, dass Sie sich ihre eigenen Gedanken zur Stuhllehre machen. Doch eigentlich sind wir, Inhaber der Stuhllehrstühle an der hiesigen Stuhlfachhochschule, verantwortlich für die Stuhllehrstuhllehre. Zur Vorbereitung unserer Studierenden im Umgang mit der Selbstverständlichkeit kultureller Heterogenität in Gesellschaft, Schule und Unterricht sehen wir uns herausgefordert, dem künftigen Stuhllehrpersonal den Erwerb von Fähigkeiten zu ermöglichen, die eine produktive Gestaltung von Schule und Unterricht im multikulturellen Kontext erlauben. Wir arbeiten deshalb prototypische Reflexionsmuster heraus, wie angehende Stuhllehrpersonen kulturelle Unterschiede spezifisch in schulischen Kontext reflektieren, und verdichten diese Reflexionsmuster bezüglich kultureller Unterschiede – es soll ja Kulturen geben, in denen Stühle noch vollständig unbekannt sind – zu einem Stufenmodell der Normalitätsreflexionen. Damit werden unterschiedliche Reflexionstiefen bezüglich ...»
«Man solle doch bitte aufhören mit diesem theoretischen Schmarren», ruft eine hohe Stimme, und schon hüpft wie ein Känguru – aber systembedingt nur einbeinig – ein Melkstuhl nach vorne. «Ich lade die Theoretiker gerne einmal ins Emmental ein, dort werden sie selber erfahren können, dass diese hochgezüchtete Spezialisierung vollkommen an der Realität vorbeizielt. Bei uns auf dem Land kann ein Küchenstuhl auch einmal zum Gartenstuhl oder mit Hilfe eines Kissens zum Polsterstuhl, ja sogar zum Melkstuhl werden, ohne dass ich deswegen protestiere, im Gegenteil, die gegenseitige Hilfe sogar begrüsse. Und wenn Ueli am Sonntag zu Besuch kommt und sich im Streit mit dem Vater über Politik weit zurücklehnt, kann ein ganz gewöhnlicher Stuhl sogar zum Schaukelstuhl werden!»
Alle wollen nun auch ihre Sicht der Dinge mitteilen. In den ausbrechenden Tumult hinein bahnt sich plötzlich die mächtige Glockenstimme der nahen Dorfkirche ihren Weg: «Uns, den Glockenstühlen, die wir nicht so leicht herumhüpfen können wie Melkstühle und andere, scheint es, dass einmal mehr die Rechte der Minderheiten vergessen gehen. Wir fordern daher, dass unverzüglich eine Kommission ...»
«Und wir Verfemte, die elektrischen Stühle, wer hat an uns gedacht?», unterbricht eine schrille Stimme den Glockenstuhl. «Es ist ein europäisches Stuhlrecht, dass alle Stühle gleichbehandelt werden ...»
In diesem Moment ertönt in der Ferne ein ohrenbetäubendes Geknatter, das schnell näher kommt. Alle Stühle recken ihre imaginierten Hälse, als sich eine Gruppe von Feuerstühlen in Viererkolonne der Konferenz der Stühle nähert und diese zu überrollen droht.
«Halt!», rufe ich voller Angst ins Stimmengetümmel hinein und wache ob meines eigenen Schreis jäh auf, selbstverständlich schweisstriefend, wie es sich für solche Geschichten gehört. Der Radiowecker berichtet eben über einen wichtigen Beschluss der Lehrer- und Lehrerinnensynode, aber ich bin noch zu benommen von meinem Albtraum, als dass ich die Details hätte aufnehmen können.
Nach dem Morgenessen sage ich meiner Frau, ich müsste unbedingt möglichst schnell ans Horn, ich hätte dort etwas vergessen. Angstvoll eile ich zum Bachdelta und bin erleichtert, als ich dort die vertrauten Stühle erblicke, die ruhig, als wäre nichts gewesen, auf den See hinaus schauen. Nur etwas abseits ist einer der Stühle zur Seite gekippt. Das muss ein Beichtstuhl sein, geht es mir durch den Kopf, der unter der Last seines Wissens sein Gleichgewicht verloren hat. Höchste Zeit, den Beichtstuhllehrgang anzupassen!
PS: Es ist dem Autor ein Anliegen festzuhalten, dass in seinem Text Ähnlichkeiten mit Programmbeschreibungen Pädagogischer Hochschulen und anderer Lehranstalten rein zufällig sind.