Die türkisch-syrische Grenze ist zu einem weltpolitischen Spannungsherd geworden. Zurzeit halten sich dort etwa 30 000 syrische Flüchtlinge auf, ohne die Grenze überqueren zu können. Die Türkei hat Mitarbeiter des Roten Halbmondes über die Grenze geschickt und baut eine Zeltstadt auf der syrischen Seite, um wenigstens einen Teil der Flüchtlinge vor dem Winterwetter zu schützen. Auch etwas Nahrung wird hinüber geliefert, und Verwundete werden nach der Türkei eingelassen.
Mehr Flüchtlinge werden kommen
Die Brisanz der Lage wird dadurch verschärft, dass noch Tausende weitere Flüchtlinge erwartet werden. Sie sind teilweise schon unterwegs auf die Grenze hin. Weitere in noch grösserer Zahl werden nachfolgen, wenn der bevorstehende Kampf um die östlichen Stadtteile von Aleppo beginnt.
Auf der türkischen Seite der Grenze gibt es auch Flüchtlingslager, dort fand ein Teil der 2,5 Millionen syrischer Flüchtlinge Unterschlupf, die von der Türkei im Verlauf der fünf Jahre des syrischen Bürgerkrieges aufgenommen wurden. Andere Teile der Flüchtlinge haben weiter innen in der Türkei provisorische Aufenthaltsräume gefunden, bis hinüber nach Istanbul.
Im Prinzip dürfen die syrischen Flüchtlinge in der Türkei nicht arbeiten. In der Praxis bedeutet dies oft, dass sie arbeiten, jedoch schwarz und zu sehr viel geringeren Löhnen als die in der Türkei gesetzlich festgelegten Mindestlöhne. Türkische Arbeiter, die auf diesem Weg unterboten werden, sehen dies ungern.
Flüchtlingskinder ohne Schule
Die überwiegende Zahl der Flüchtlinge sind Frauen und Kinder, man kann davon ausgehen, dass die Hälfte aller Flüchtlinge Kinder und Halbwüchsige sind. Für sie ist kein Platz in den türkischen Schulen, schon nicht der Sprache halber. Manche der Flüchtlinge suchen sich zu organisieren, um ihren Kindern Unterricht zu erteilen. Doch dies bleibt im besten Fall Improvisation. Manche der Flüchtlinge sind nun schon seit fünf Jahren in der Türkei. Für alle von ihnen ist kein Ende ihres Exils abzusehen.
Die Türkei will nicht Parkplatz und Torhüter sein
Absehbar ist hingegen, dass die Zahl der Flüchtlinge an der türkischen Grenze weiter zunehmen wird. Wenn die Schlacht um Aleppo beginnt, könnten dies mehrere Zehntausend wenn nicht mehrere Hunderttausend mehr Flüchtlinge werden.
Die Türkei weigert sich, immer mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Europa fürchtet, dass sie alle oder zu Teilen nach Europa strömen werden. Eine Millionenindustrie von Menschenschmugglern ist an den Mittelmeerküsten der Türkei entstanden, die der Übersetzung auf die griechischen Inseln dient. Europa hat der Türkei Geld versprochen, wenn die Türkei den Strom der Flüchtlinge eindämme. Die Rede war von über drei Milliarden Euro, doch sie wurden nicht sofort ausbezahlt. Gleichzeitig wurde jedoch von der Uno und auch von europäischer Seite gefordert, die Türkei solle die Grenzen für die neue Flüchtlingswelle öffnen, die heute aus Syrien Einlass begehrt.
Die Flüchtlinge als Trumpfkarte
Präsident Erdogan und seine Regierung sind sich natürlich der Macht bewusst, die ihnen gegenüber den europäischen Staaten zur Verfügung steht. Diese fürchten die Flüchtlingsströme, die sich aus der Türkei über Griechenland und auf der Balkanroute nach Europa ergiessen und weiter zu ergiessen drohen.
Am liebsten würden die Europäer zahlen, wenn sie einen Partner fänden, der bereit wäre, die unangenehme Arbeit für sie zu tun, die daraus besteht, die Flüchtlinge abzuwehren und gleichzeitig Nothilfe für sie zu organisieren. Dass solche Massnahmen in dem Masse immer weniger human ausfallen werden, in dem der Flüchtlingsstrom zunimmt, weiss jeder. Doch wenn die Türkei die schmutzige Arbeit übernähme, könnten die Europäer sich leichter auf eine weisse humanitäre Weste berufen.
Mehr als nur Geld? Erdogans "Sicherheitszone"
Jedoch, Geld wird schwerlich genügen, um die Türkei zum Torhüter Europas zu machen. Jedenfalls nicht Geld in einer Grössenordnung, wie sie den Europäern vorschwebt. Die Türkei hat ihren eigenen Plan, den sie bisher nicht hatte verwirklichen können, den jedoch Erdogan in seiner charakteristischen Zähigkeit schwerlich einfach schubladisiert hat.
Dies wäre die Schaffung einer "Sicherheitszone" jenseits der syrischen Grenze, in der die syrischen Flüchtlinge "parkiert" werden könnten. Weder die Nato noch die USA waren bereit, diesen Plan zu unterstützen, weil er zu Verwicklungen mit den syrischen Streitkräften und seit dem russischen Eingriff, der Ende September 2015 begann, auch mit den Russen führen müsste.
Die Türkei will ihren Plan nicht alleine in die Hand nehmen. Deshalb wurde er nicht verwirklicht. Doch nun schaffen die Flüchtlinge an der türkischen Grenze eine De-facto-Verwirklichung dieses Planes. Wenn sie nicht in die Türkei eingelassen werden, und wenn ihre Zahl immer weiter wächst, werden die Lager an der Grenze sich ausdehnen. Sie tragen die Fahne der türkischen Roten Halbmondes und ihre Zelte werden von der Türkei aufgestellt und bewirtschaftet - auf syrischem Boden. Die "Zone" ist da.
Sehr sicher zu werden, verspricht sie allerdings nicht. Die Russen haben bereits gewarnt, sie seien der Ansicht, die Türkei bereite sich auf einen militärischen Eingriff über die Grenze hinweg vor. Russland werde dies nicht dulden. Die russischen Propagandafachleute wollen Vorbereitungen in diesem Sinne beobachtet haben - vielleicht waren es bloss die Zelte, die an und über die Grenze gebracht wurden. Doch die Russen machen jedenfalls klar, dass sie die "Zone" im Auge behalten.
Gegen die "ethnische Säuberung" Syriens
Es gibt auch Gegenpropaganda von der türkischen Seite. Erdogan und seine Sprecher reden davon, dass in Syrien eine "ethnische Reinigung" vor sich gehe. Sie meinen damit die Flucht der nordsyrischen Bevölkerung vor den Bomben der Russen. Die Nato, so sagen die Türken, solle gegen diese "ethnische Säuberung" einschreiten. Dies ist mehr ein propagandistisches Argument.
Doch darüber hinaus gibt es die Flüchtlinge. Ankara kann die Angst davor, dass sie alle nach Europa strömen, dazu benützen, um zu versuchen, die "Sicherheitszone" doch noch durchzusetzen. Wenn sich das als unmöglich erweisen sollte, würde grosses Geld aus Europa vielleicht erneut Verhandlungsgegenstand.
Saudische Hilfe?
In den Versuch, das "Sicherheitszonen" Plan doch noch zu fördern, wird auch Saudi-Arabien mit einbezogen. Hat Riad ziemlich vorschnell erklärt, im Falle, dass die anderen Koalitionsstaaten mitmachten, würde man in Betracht ziehen, ebenfalls Soldaten in Syrien zu engagieren. Woraufhin die Türken von "militärischer Koordination" zwischen Saudi-Arabien und der Türkei zu reden begannen.
Doch Teheran gab schnell Gegensteuer. Ein iranischer Vizeaussenminister, Ibrahim Rahmanpour, traf in Ankara ein und warnte in Gesprächen mit seinen türkischen Kollegen die Türkei davor, "mit den Verlierern" gemeinsame Sache zu machen. Verlierer, so versicherte er, seien die Saudis, denn sie seien nicht in der Lage gegen Iran, Russland und Syrien anzukämpfen. Sogar in Jemen müssten sie sich mit Söldnern behelfen.
Kurden beherrschen die grössten Teile der Grenze
Eine weitere Schwierigkeit für die türkischen Pläne bieten die Kurden. Die syrischen Kurden der PYD (Demokratische Unionspartei) beherrschen die grössten Teile der türkisch syrischen Grenze. Nur eine kleine Lücke, knappe 90 Kilometet nach Osten vom Grenzübergang Bab as-Salam aus, befindet sich nicht in kurdischer Hand. Weil die Kurdenkämpfer die besten Soldaten gegen IS abgeben, sind sie den Amerikanern wichtig, und sie erhalten Luftunterstützung von ihnen.
Doch dieser Tage ist es den kurdischen Kämpfern der Enklave von Afrin gelungen, die syrische Luftbasis von Menagh, die an der Strasse nach Bab al-Salam liegt, anderen syrischen Rebellengruppen, welche die Basis beherrschten, zu entreissen und dadurch ihr Territorium auszuweiten. Russische, nicht amerikanische, Flugzeuge unterstützten dabei die Kurden.
Washington – mit Ankara oder mit den Kurden?
Erdogan sind diese Kurden ein Dorn im Auge. Er sieht sie - nicht ohne Grund- als eine Filiale der PKK an, welche die türkische Armee erneut aktiv bekämpft. Erdogan hat versucht, die Amerikaner von den kurdischen Kämpfern zu trennen. Er liess den amerikanischen Botschafter einberufen, um ihm zu erklären, die PYD Kämpfer seien Terroristen so gut wie jene der PKK (die von Türken und Amerikanern als Terroristen klassifiziert worden sind).
Die Amerikaner entgegneten, für sie sei dies in Bezug auf die syrischen Kurden nicht der Fall. Erdogan erklärte öffentlich, "Ströme von Blut" seien nur deshalb geflossen, weil die USA die PYDY Kurden nicht als Terroristen einschätzen und behandeln wollten.
Russland: "Wir bombardieren nur Terroristen!"
Auch die Russen sind in das politische Ringen um die Grenze und den Grenzraum vor der Türkei impliziert. Sie behaupten schlichtweg, ihre Kriegsflugzeuge griffen nie Zivilisten an, immer seien es "Terroristen", die sie bombardierten. Sie erklären stereotyp, wenn das Thema zur Sprache kommt: "Es gibt keine ernsthaften Beweise dafür, dass wir je Zivilisten angegriffen haben! ". Dass die syrischen Zivilisten sterben und fliehen, in erster Linie Frauen und Kinder, gilt den Russen offenbar nicht als "ernsthafter Beweis".
Die Beziehungen Moskaus zur Türkei bleiben gespannt seit dem Abschuss eines russischen Flugzeugs durch die Türkei vom 24. November 2015. Beide Seiten sprechen Drohungen gegeneinander aus.
Kommt die Zweiteilung Syriens?
Unterdessen überlegen sich die westlichen Strategen bereits, was geschehen werde, wenn es der syrischen Armee mit Hilfe der Russen und der Iraner gelingt, Aleppo einzunehmen und dann auch die Provinz Idlib, südwestlich von Aleppo, zu unterwerfen. Dort beherrschen heute die Nusra-Front und Verbündete islamistische Gruppen das Terrain. Sie stehen aber schon gegenwärtig unter starkem Druck durch die russische Luftwaffe. Wenn die beiden Gebiete, Ostaleppo und Idlib, Damaskus zufallen, entsteht eine Zweiteilung Syriens. Der ganze Westen würde sich in der Hand der Armee Asads befinden. Dies ist der fruchtbarste und volkreichste Teil des Landes.
Der Osten, am Euphrat und jenseits des Stroms, in der Dschesira, der "Insel" zwischen Euphrat und Tigris, sowie natürlich auch hinüber nach Nordirak, wäre Gebiet des IS.
Der Westen würde dann vor die Wahl gestellt, entweder zusammen mit Asad gegen IS zu kämpfen, oder IS auf sich beruhen zu lassen und es Asad und Russland zu überlassen, zu bestimmen, was dort weiter geschieht. Das erste wäre schwer akzeptierbar. Und das zweite würde möglicherweise einen weitgehenden Abschied der USA und des Westens aus dem Nahen Osten mit seiner weltstrategischen Lage bedeuten - und der Beginn einer russischen Hegemonie in der Region. Die Flüchtlinge aus der Region jedoch würden wahrscheinlich weiterhin nach Europa drängen.
Erdogans Interesse - westliches Dilemma
Auch diese ferner liegenden und wenig erfreulichen Aussichten wiegen mit bei der Abschätzung dessen, was nun an der türkischen Syriengrenze geschehen soll. Das Rezept der Türkei würde fast unvermeidlich zu einer Konfrontation mit Asad und mit den Russen führen. Die Türken wissen dies und wollen eine solche Konfrontation herbeiführen. Allerdings nur, wenn dabei die gesamte Macht des Westens zum Einsatz kommt.
Die Türkei kann darauf hinweisen, dass, wenn diese Konfrontation vermieden wird (wie es der Westen am liebsten sähe), die Folgen aus einer unerfreulichen Alternative bestünden. Nämlich entweder: Asad plus Russen gegen IS mit Hilfe des Westens, oder: Asad plus Russen gegen IS ohne den Westen. Wobei das zweite eine Abdankung des Westens aus dem Nahen Osten bedeutete.