Gerade haben wir uns in historischen Rückblicken an den Anfang des ersten Weltkriegs erinnert. Ausführlich haben wir analysiert, wie dieser Krieg mit einer kleinen Krise begann. Dass sie sich zu einem weltweiten Krieg entwickeln könnte, hatte niemand erwartet. Gegenwärtig stehen wir vor einer vergleichbaren Lage im Nahen Osten.
Der Nato-Staat Türkei hat ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen. Einer der Piloten wurde beim Absprung mit dem Fallschirm offenbar von Milizen erschossen, die der Türkei nahestehen. Daraufhin wurde ein russischer Rettungshelikopter von Widerstandkämpfern getroffen und zerstört. Dabei kam ein russischer Soldat ums Leben.
Hochentwickelte Waffensysteme
Putin spricht von einem "Dolchstoss". Doch sowohl Russland als auch die Türkei betonen, sie wollten keinen russisch-türkischen Krieg. Allerdings scheinen weder Putin noch Erdogan bereit zu sein, die Spannungen an der syrisch-türkischen Grenze abzubauen ("deseskalieren" wäre der heutige Fachbegriff). Im Gegenteil: Beide Staaten verstärken ihre Truppen und bauen technisch hochentwickelte Waffensysteme auf. Damit nimmt die gegenseitige Bedrohung weiter zu.
Das russische Verteidigungsministerium hat angekündigt, dass die russischen Kampfjets künftig von Jagdflugzeugen begleitet sein werden. Diese sollen sie gegen mögliche Angriffe schützen. Solche Jagdflugzeuge sind bereits auf dem Weg nach Syrien. Auch ein russisches Kriegsschiff markiert Präsenz. Moderne russische Luftabwehrraketen werden in der russischen Luftwaffenbasis in Syrien installiert. Sie könnten Incrilik erreichen, die amerikanisch-türkische Luftbasis bei Adana. Von dort aus starten zur Zeit amerikanische und türkische Kampfflugzeuge zu ihren Einsätzen in Syrien.
Bomben auf die Turkmenen
Während diese russische Aufrüstung in Syrien im Gang ist, haben russische Kampfflugzeuge begonnen, turkmenische Dörfer auf der syrischen Seite des syrisch-türkischen Grenzraums zu bombardieren - dort, wo die Konfrontation begonnen hatte. Offenbar sollen die Russen bereits 16 Kampfeinsätze am Rande der Provinz Lattakiya geflogen sein.
Weiter östlich soll zudem ein Lastwagendepot an der türkischen Grenze bombardiert worden sein, und zwar dort, wo sich ein wichtiger, noch offener Grenzübergang befindet. Hier schleust einerseits der „Islamische Staat“ (IS) seine Anhänger nach Syrien. Anderseits flüchten über diesen Grenzübergang Syrer aus Angst vor dem IS in die Türkei.
Die Türkei, "heimlicher Helfer des 'Islamischen Staats'"
Mit den Lastwagen wurde offenbar Erdöl in grossem Stil von Syrien in die Türkei geschmuggelt. Dieser Schmuggel ist eine der wichtigsten Einnahmequellen des „Islamischen Staats“. Moskau wirft der Türkei vor, von dem Schmuggel zu profitieren. Deshalb sei, so die russische Propaganda, die Türkei „in Wirklichkeit“ ein heimlicher Helfer des IS. Vielleicht ist das nicht ganz falsch. Viele Kurden glauben das auch.
Die Amerikaner haben offenbar während Monaten zugesehen, wie lange Kolonnen von Lastwagen vom IS-Territorium aus Richtung Türkei unterwegs waren. Erst nach den Anschlägen in Paris am 13. November hat die von den USA geführte Koalition erste Luftangriffe auf solche Öltransporte geflogen.
Waren Amerikaner am Ölschmuggel beteiligt?
Warum solche Lastwagen bisher nicht angegriffen wurden, ist unklar. Wollten die Amerikaner vermeiden, dass die Lastwagenfahrer, die zivile Sunniten sind und schwerlich eine andere Arbeit finden könnten, bei Angriffen ums Leben kommen? Aus Rache hätten sich dann die Überlebenden und ihre Angehörigen erst recht dem „Islamischen Staat“ angeschlossen.
Doch es gäbe auch eine weniger humane Erklärung für das Ausbleiben amerikanischer Angriffe auf die Öltransporte: Waren die Amerikaner an dem Erdölschmuggel mitbeteiligt?
Keine Pufferzone
Wie auch immer: die bisherige Zurückhaltung ist vorbei, sowohl Amerikaner als auch Russen bombardieren. Die Russen und die Syrer greifen Ziele an, die sich auf syrischem Gebiet direkt an der türkischen Grenze befinden. Direkt, das heisst, nur wenige Meter von der Grenze entfernt. Damit wollen die Russen und die Syrer klarstellen, dass sie die türkische Forderung nach einem „Grenzraum“ nicht akzeptieren. Die Türkei wollte direkt südlich der Grenze eine Art Pufferzone auf syrischem Gebiet einrichten.
Wer die Angriffe gegen die Turkmenen fliegt, ist nicht ganz klar. Es könnten syrische oder russische Kampfflugzeuge sein – oder von Russland an Syrien gelieferte Maschinen, die mit russischen Instruktoren eingesetzt werden. Geflogen werden könnten die Flugzeuge von einem russischen oder syrischen Piloten.
Wachsende Gefahr
Die Türkei hatte erklärt, sie habe nicht gewusst, dass das abgeschossene Flugzeug ein russisches war. Die Türkei behauptet, sie habe die Piloten gewarnt und veröffentliche ein entsprechendes Tonband-Protokoll. Diese Warnung erfolgte in englischer Sprache.
All diese Unklarheiten sind erwähnenswert, weil die Gefahr nicht gebannt ist, dass sich ähnliche Situationen von Neuem ergeben. Da beide Seiten aufrüsten, wächst die Gefahr weiter.
"Bestrafung"
Auch die politischen Spannungen wachsen. Russland droht der Türkei mit wirtschaftlichen Sanktionen. Putin erklärt, er habe von allen Ministerien Angaben darüber angefordert, welche Beziehungen sie zur Türkei unterhielten oder planten. Unter anderem könnte Russland versuchen, die russischen Touristenströme nach der Türkei abzuwürgen. Putin rechtfertigt dies mit dem Argument, bei weiteren Zusammenstössen könnten russische Touristen in Mitleidenschaft gezogen werden. Russische Feriengäste strömten bisher in Scharen in die Türkei. Nur die Deutschen besuchen das Land noch öfter als die Russen.
Zur Sprache kommt auch eine Reduktion türkischer Einfuhren nach Russland – und umgekehrt: ein Eindämmen russischer Exporte in die Türkei. Betroffen davon wären möglicherweise auch die russischen Gaslieferungen an die Türkei. Von geplanten Pipelines, die russisches Gas in oder durch die Türkei transportieren sollen, ist im Moment nicht mehr die Rede, ebenso wenig von geplanten russischen Atomkraftwerken in der Türkei.
Doch eine „Bestrafung“ der Türkei würde auch russische Interessen schädigen. Aus diesem Grund ist ungewiss, wie rigoros die wirtschaftlichen „Strafmassnahmen“ ausfallen werden. Doch wenn der Konflikt weiter eskaliert, wird Putin sicher die Schraube anziehen.
Unter einer Decke mit der Nusra-Front
Unklarheiten bestehen auch in Bezug auf die turkmenischen Kämpfer. Sie sind die letzten, die den Hafen von Lattakiya bedrohen. An allen andern Fronten haben russische Flugzeuge und syrische Kampftruppen die Rebellen zurückgedrängt. Nicht so die Turkmenen. Sie haben den Vorteil, dass ihr Gebiet sich an die türkische Grenze anlehnt. Sie verfügen über Waffen, die aus der Türkei kommen – möglicherweise auch von der CIA. Laut syrischen Armeeangaben verfügen die Turkmenen neuerdings über zahlreiche TOW Anti-Tank-Raketen amerikanischen Ursprungs.
Die turkmenischen Kampfverbände gehören zum grössten Teil, wenngleich nicht immer, zu dem weiten Verbund von Anti-Asad-Kämpfern. Dieser Zusammenschluss nennt sich „Armee der Eroberung“ (Dschaisch al-Fatah). Dieser Verbund wird mit Geld und Waffen von Saudi-Arabien unterstützt.
Doch auch die Nusra-Front, der syrische Arm von al-Qaeda, gehört zu den „Verbündeten“. Sie ist in der Provinz Idlib, der östlichen Nachbarprovinz von Lattakiya, die wichtigste Miliz. Die „Armee der Eroberung“ ist deshalb wohl willens und darauf angewiesen, eng mit Nusra zusammenzuarbeiten. Sowohl die Russen als auch die Amerikaner bezeichnen die Nusra-Front als „terroristisch“.
Turkmenisches Gebiet nördlich von Aleppo
Die Zusammenarbeit der Türkei mit den Turkmenen – und damit indirekt mit der Nusra-Front – bestärkt die Russen in der Annahme, die Türkei arbeite heimlich mit islamistischen Terroristen zusammen.
Turkmenen gibt es auch weiter östlich an der türkischen Grenze. Die türkische Nachrichtenagentur AA (Anadolu Acensi) veröffentlicht eine Karte der turkmenischen Dörfer südlich der türkischen Grenze. Viele türkische Zeitungen drucken sie ab. Auf dieser Karte füllen die turkmenischen Dörfer in einer blau gefärbten Zone das ganze Gebiet nördlich von Aleppo aus, das für die von der Türkei geplante und geforderte Sicherheitszone vorgesehen wäre. Dass es dort auch - gemischt mit den Turkmenen - arabische und kurdische Dörfer gibt, ist aus der Karte nicht ersichtlich. Für die Russen und die syrische Asad-Regierung ist dies natürlich ein Teil des syrischen Staatsgebietes. Wer dies leugnen will, ist in ihren Augen "ein Terrorist".
Flexibilität ist nicht ihre Stärke
Wer wird zuerst nachgeben: Putin oder Erdogan? Bei beiden gehört Flexibilität nicht zu ihren Stärken, bei Erdogan noch weniger als bei Putin. Vorläufig scheinen beide Seiten darauf bedacht, ihre militärische Position weiter zu verstärken mit dem Ziel, ihre politische Linie durchzuziehen. Dies birgt die Gefahr weiterer militärischer Zusammenstösse. Kommt es zu neuen Zwischenfällen, könnte die Lage explosiv werden.
Entscheidend wäre natürlich, ob und wann die USA ihre gegenwärtige Zurückhaltung aufgeben und ihrerseits gegen die Russen und die Asad-Truppen vorgehen. Dies steht nicht unmittelbar bevor. Doch auch in den USA wächst der Druck auf die Obama-Regierung, "etwas zu tun". Möglicherweise werden amerikanische Sondertruppen schon bald nicht nur im Irak sondern auch in Syrien operieren.