Noch heute wird er in Tunesien verehrt: Vor genau zehn Jahren trat Bundespräsident Samuel Schmid in Tunis ans Rednerpult. Das Fernsehen übertrug seine Rede live.
Dann geschah es: Mutig und offen kritisierte Schmid die Menschenrechtspolitik des tunesischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali, der das Land diktatorisch regiert. Sofort wurde die Fernsehübertragung abgebrochen. Und Samuel Schmid wurde zum Helden der Opposition.
Der Zwischenfall hatte Folgen: Die Beziehungen zwischen Tunesien und der Schweiz kühlten sich radikal ab. Zu den Leidtragenden gehörte auch ein Berner Kleinunternehmer.
Rückblende
Vom 5. bis 7. November 2003 fand in Genf eine internationale Messe zum Thema „Informationstechnologien im Dienste des humanitären Völkerrechts“ statt. Organisiert wurde die Konferenz vom EDA, dem schweizerischen Aussenministerium und dem Militärdepartement.
Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) hatte den Berner Unternehmer Otto Frei damit beauftragt, die Veranstaltung und die Ausstellungen zu organisieren und aufzubauen.
Grussbotschaft von Ben Ali
Zwei Jahre später fand in Tunis eine Nachfolgekonferenz statt. Die Tunesier baten Otto Frei, auch diese Veranstaltung zu planen und zu organisieren. 2004 schloss Frei mit den tunesischen Verantwortlichen einen Vertrag ab.
Mit einem Team von 40 Schweizern machte er sich an die Arbeit. Der ganze Auftrag hatte laut Frei einen Wert von vier Millionen Franken.
Am 15. November begann die Konferenz. Präsident Ben Ali schrieb für den Ausstellungskatalog eine Grussbotschaft. Samuel Schmid fiel die Ehre zu, die Eröffnungsrede zu halten, weil der erste Teil der Konferenz in Genf stattfand.
Opfer einer mutigen Rede
Dann der Eklat: Samuel Schmid war wütend, als er erfuhr, dass seine Rede gekappt und dass er staatlich zensuriert wurde.
Frei befürchtete Schlimmes, und seine Befürchtungen traten ein. Die Organisatoren der Konferenz schuldeten ihm noch 1'022'422.- Franken. Er stellte Rechnung.
Nichts. Tunesien zahlte nicht mehr. Das Regime war beleidigt und stoppte jede Zahlung. Otto Frei wurde zum Opfer der mutigen Rede des schweizerischen Bundespräsidenten.
„Die Organisatoren hassten mich plötzlich“, erzählt er. Er wurde vor Gericht gezogen. Mit fadenscheinigen Vorwürfen wurde er selbst zur Zahlung einer Million verurteilt.
"Verständnis"
Schliesslich wandte er sich an den in Genf und Tunis arbeitenden Anwalt Taoufik Ouanes. Dieser verfügt sowohl über die tunesische als auch über die schweizerische Staatsbürgerschaft.
Dass sich unter Ben Ali das Problem nicht lösen würde, war sowohl Otto Frei als auch seinem Anwalt klar. Doch im Januar 2011 wurde Ben Ali davongejagt; in Tunesien begann der Arabische Frühling.
Jetzt begann Otto Frei zu hoffen. Maître Ouanes konnte als erstes erreichen, dass das Urteil aufgehoben wurde. Doch damit fehlte dem Berner Unternehmer noch immer die ihm zustehende Million.
Frei und Ouanes wandten sich mehrmals an die Schweizer Botschaft und ans EDA. Man drückte „Verständnis“ für die Anliegen aus und dankte „für die Geduld“.
Druck aufsetzen
Ouanes sagt gegenüber Journal21, die Schweiz habe laut internationalem Recht „die Pflicht, seine Staatsbürger auf diplomatischem Weg zu verteidigen“. Otto Frei habe nicht mit einem Privaten einen Vertrag abgeschlossen, sondern mit dem tunesischen Staat, der die Konferenz organisiert habe.
Das sieht das EDA anders: Gegenüber Journal21 erklärt es: „Im vorliegenden Fall geht es um einen privatrechtlichen Vertrag zwischen der Firma von Herrn Otto Frei und der tunesischen Regierung. Die Schweizer Bundesbehörden sind nicht Vertragspartei.“
Seit Jahren drängt Maître Ouanes die Bundesbehörden, mehr Druck aufzusetzen und „die tunesischen Behörden in die Pflicht zu nehmen“.
"Eine weitere Vorsprache in Angriff nehmen"
Doch das war nicht einfach. Zwar hatte die offizielle Schweiz laut Angaben des EDA „in den Jahren bis 2010 mehrmals auf geeigneter Ebene interveniert“. Doch dass sich die Ben Ali-Behörden nicht gesprächsbereit zeigten, erstaunt nicht.
Und nach dem Sturz Ben Alis? Trotz „erheblich veränderter“ politischer Rahmenbedingungen hätte sich das EDA bereit gezeigt, „eine weitere Vorsprache bei den tunesischen Behörden in Angriff zu nehmen“. Doch das Land befand sich nach dem Sturz Ben Alis in einer Umbruchphase. In den Behörden wechselte ständig das Personal. Deshalb, so das EDA, „war eine Demarche bei einem adäquaten Ansprechpartner bis zu den Wahlen Ende 2014 nicht möglich“.
Neue Hoffnung
Und nach den Wahlen? Otto Frei fürchtet, dass alles auf die lange Bank geschoben wird. In einem vom 7. November 2015 datierten Brief an Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga bittet er um Hilfe und Unterstützung, „um doch noch Gerechtigkeit zu erfahren“.
Samuel Schmid hat sich letzte Woche bei Otto Frei gemeldet. Auch das EDA zeigt sich hilfsbereit. Gegenüber Journal21 betont es: „Die Schweizerischen Bundesbehörden werden den Fall von Otto Frei gegenüber den tunesischen Behörden weiterhin in geeigneter Weise unterstützen.“ So keimt denn neue Hoffnung auf.
Genährt wird diese auch, weil sich die Beziehungen zwischen Tunesien und der Schweiz seit dem Sturz Ben Alis stark verbessert haben. Ausdruck dafür ist der offizielle Besuch des tunesischen Präsidenten Beji Caid Essebsi an diesem 25. November in Bern (P.S. nach dem Attentat am Dienstag in Tunis wurde der zweitätige Staatsbesuch abgesagt).
"Es war gut, dass er sagte, was er gesagt hat"
Der heute 71-jährige Otto Frei geriet nach dem Zahlungsstopp in wirtschaftliche Nöte. Mangels liquider Mittel musste er seine Geschäftstätigkeit stilllegen. Das Geld, das er für die Altersvorsorge reserviert hatte, wurde aufgebraucht. Um über die Runden zu kommen, arbeitete er sieben Jahre lang für ein Entwicklungsprojekt in Madagaskar.
So hofft denn Otto Frei, doch noch an die Million heranzukommen. Samuel Schmid verurteilt er keineswegs, im Gegenteil: „Es war gut, dass er sagte, was er gesagt hat“. Diese Rede habe dazu beigetragen, „den Arabischen Frühling einzuläuten“.