Italien gibt es nicht. Das sagen viele Italiener. Auch 158 Jahre nach der Vereinigung ist das Land noch längst nicht vereint. Die Norditaliener schimpfen über die faulen Süditaliener. Die Süditaliener lästern über die egoistischen Norditaliener. Die Toskaner mögen die Umbrier nicht, die Kalabresen hassen die Apulier und die Ligurier die Lombarden.
Doch zwei Dinge gibt es, welche die zwanzig italienischen Regionen einen: Wenn die italienische Fussballnationalmannschaft spielt, dann schreien sie alle aus einer Kehle, dann sind sie eine einzige Nation.
Und noch etwas gibt es, was sie eint: Ihre Bewunderung für einen Kriminalbeamten in einem sizilianischen Städtchen, das es nicht gibt.
25 Millionen verkaufte Bücher
„Commissario Montalbano“ ist die Hauptfigur in den Romanen des Bestsellerautors Andrea Camilleri. 25 Millionen Bücher hat er verkauft. Alle kennen ihn, von Como im Norden bis hinunter nach Agrigento an der Südküste Siziliens. Dort spielen die meisten seiner Romane. Auch Leute, die nie ein Buch gelesen haben, kennen Camilleri und schwärmen von ihm.
Reisebüros veranstalten Touren an die Orte, an denen seine Romane eine Rolle spielen. Restaurants bieten Menus an, die Camilleris Kommissar isst. Es gibt Enzyklopädien mit den Rezepten, die er beschreibt. Camilleri-Fan-Clubs treffen sich regelmässig.
Abends auf der Veranda
Sogar die berühmteste Maus der Welt setzt Commissario Salvo Montalbano ein Denkmal. In einem italienischen Micky-Maus-Heft von 2013 ermittelt Micky (auf Italienisch: Topolino) zusammen mit einem Commissario Salvo Topalbano.
Camilleris Kommissar ist ein nicht mehr ganz junger, ab und zu impulsiver Mann. Er lebt allein und liebt es, am Abend auf seiner Veranda zu sitzen, aufs Meer zu schauen, zu rauchen und Whisky zu trinken. Er hat eine Haushälterin, die ihn verwöhnt und eine Lebensgefährtin (Livia), mit der er sich oft zankt.
Revolte gegen Brüssel
Und vor allem: Er liebt das gute Essen. Seine Lieblingsrestaurants sind die Trattoria Enzo und die Trattoria San Galogero. Da verspeist er Spaghetti al „nivuro di siccia“, „Purpiteddri“, „Triglie da arricriare lo stomaco“, „Triglie di scoglio freschissime“, „Spigole così fresche che sembrano ancora in acqua a nuotare“. Das beste Eis und die besten „cannoli di ricotta freschi“ gibt es in der Bar Albanese. Er beschreibt die „cavatuna con sugo“, Rigatoni mit Fleischsugo, gefolgt von einem süsssauren Kaninchenbraten und süsssauer gebratene Auberginen. Wichtig sei das „richtige Verhältnis zwischen Essig und Honig“, schreibt Camilleri.
Einmal provozierte er fast einen Aufstand gegen Brüssel. Er und sein Commissario lieben junge gebratene Sardinen, Sardellen und Seebarben (triglie). Ein eifriger EU-Beamter verbot ihm, solche Jungtierchen zu verzehren; es gebe ein neues EU-Gesetz. In Leserbriefen entwickelte sich eine eigentliche Revolte gegen Brüssel.
Schöne Frauen, dumme Männer
Nach dem Mittagessen bei Enzo spaziert Camilleri regelmässig auf die Mole, um zu verdauen. Er setzt sich ans Meer und wirft einige Steinchen auf einen Krebs, der immer auf ihn wartet und mit ihm spielt. Einmal waren sogar zwei Krebse dort. „Vielleicht hat der Krebs eine Schwester.“
Und natürlich löst Montalbano die kompliziertesten Fälle. Da geht es um Morde, Korruption, Waffenschmuggel, vorgetäuschte Vergewaltigungen, um die Mafia und ihre Clans – und so weiter. Immer sind schöne, raffinierte Frauen und viele dumme Männer im Spiel.
Ein Ei gegen ein Kruzifix
Die Romane spielen in einem Städtchen namens Agàta. Der Ort ist ein Fantasiegebilde und liegt zwischen Agrigento und Porto Empedocle. Dort in Porto Empedocle wurde Camillieri am 6. September 1925 geboren. Schnell zeigte sich, dass er intelligent war und sich nicht den Konventionen anpassen wollte. Von einer Klosterschule wurde er weggewiesen, weil er ein Ei gegen ein Kruzifix warf. Seine Lehrmeister waren später die Linksintellektuellen jener Zeit, unter anderem der Nobelpreisträger Dario Fo.
Zunächst wurde Camilleri Theaterregisseur und schrieb Stücke für das Radio. Bald schon arbeitete er für die Rai, das öffentlich-rechtliche italienische Radio und Fernsehen.
Voller Schalk und Zweideutigkeiten
1994 schrieb er den ersten Montalbano-Roman. 26 weitere sollten folgen. Die meisten wurden in viele Sprachen, auch auf Deutsch, übersetzt. Neben der Montalbano-Serie verfasste er weitere Romane. Viele seiner Bücher wurden verfilmt. Gespielt wird Kommissar Montalbano von Luca Zingaretti, dem Bruder von Nicola Zingaretti, dem neuen Chef des sozialdemokratischen Partito Democratico (PD).
Die Montalbano-Krimis sind nicht hochstehende Literatur. Sie sind schlau, witzig, farbig, voller Schalk und Zweideutigkeiten. Die Plots sind abenteuerlich und theatralisch, die Untersuchungsmethoden keck und schräg. Der Autor gehört zu den wenigen Italienern, die sich nicht ganz ernst nehmen. Manchmal streifen die Texte ganz bewusst das Genre von Dreigroschenromanen.
Hochpolitische, leichte Kost
Diese leichte Kost trägt zum Erfolg bei. Aber: Hinter dieser Kost steht viel Ernsthaftigkeit. Camilleri klagt an: die Politiker, die Justiz, die katholische Kirche, die italienische Heuchelei, die falsche Moral, die Mafia, den fehlenden Gemeinsinn der Gesellschaft. Er hält dem Land den Spiegel hin wie kaum ein anderer. Aus diesem Grund sind die leicht lesbaren Bücher hochpolitisch.
Die kleinen Diebe hängt man, heisst es da. Doch „viele Lügner und Straftäter, die nicht rechtskräftig verurteilt wurden, können hingegen lügen und stehlen, so viel sie wollen. Ihnen glaubt man, denn sie sind Anwälte, Politiker, Wirtschaftsleute, Banker und so fort.“
„Bigotter Schleimer“, „Hühnerarschgesicht“
Auch die Flüchtlingspolitik prangert er an. Die Migranten würden in Lager gepfercht. „Sardinen in einer Dose haben mehr Bewegungsfreiheit.“
Seine Romane sind auch eine Parodie auf den Machismus der Italiener. Der Autor kritisiert die Bürokratie, stundenlang muss man warten, bis man auf einem Amt vorgelassen wird, die Computer funktionieren nicht, die Beamten lösen Kreuzworträtsel. Der Staatsanwalt geilt sich auf, indem er von einer vergewaltigten Frau verlangt, dass sie ihm in Details alles erzählt. Hohe Beamte verspottet Camilleri. Dottor Latte ist Stabschef im Polizeipräsidium, ein „bigotter Schleimer“ und Abonnent der Vatikan-Zeitung „Osservatore romano“. Auch Fernsehreporter nimmt er ins Visier. Da gibt es den Starreporter Pippo Ragonese, das „Hühnerarschgesicht“ des Fernsehsenders „Televigàta“ – eine Anspielung auf mehrere bekannte TV-Stars.
„Stai cugliunanno, Calò“
Berühmt ist Camilleris Sprache, die Übersetzer viel Kopfzerbrechen bringt. Vor allem Catarella, genannt Catarè, der konfuse Telefonist im Kommissariat, spricht einen witzigen, poetischen, sizilianisch-italienischen Dialekt. Diese von Camilleri zelebrierte „Ur-Sprache“ ist Gegenstand mehrerer philologischer Untersuchungen. Spricht man mit Italienern über Camilleri, kann fast jeder einige dieser theatralischen Sätze rezitieren. Camilleris Sprache ist fast schon Volksgut geworden.
Das klingt etwa so: „Stai cugliunanno, Calò“ – „Nonsi, dottù. Come vossia sapi, io ho dù bipass e sittantatri anni sunati. 'U medicu non voli cchiù che continuo a travagliari.“
Hass auf Salvini und Berlusconi
Natürlich hatte der Linksintellektuelle auch Feinde. Nicht von ungefähr: Camilleri hasste Berlusconi und Salvini – und verkündete es lautstark. „Wenn ich Salvini mit dem Rosenkranz sehe, kriege ich einen Brechreiz“, sagte Camilleri (Salvini con il rosario mi dà un senso di vomito). Salvini antwortete trocken: „Schade, mir gefallen seine Bücher.“
Selbst auf dem Totenbett ereilte Camilleri der Hass der Salvini-Anhänger. „Ein Kommunist weniger“, hiess es in sozialen Netzwerken. „Krepiere du Schwein, du hast es verdient.“ Oder: „So geht es einem, wenn man Salvini auf den Sack geht.“
Camilleri wollte Mitte Juli in den Caracalla-Thermen in Rom ein letztes Mal auftreten. „Ich würde gerne dort sitzen und dann alles abschliessen“, hatte er gesagt. Jetzt hat er kurz vorher alles abgeschlossen.
P.S. Andrea Camilleri starb heute Mittwoch im Römer Spital Santo Spirito im Alter von 93 Jahren, nachdem er dort am 17. Juni nach einem Herzstillstand eingeliefert worden war.