«Zahnradstrasse» lautet die Adresse jetzt. Nicht mehr «Beethovenstrasse». Das klingt gut, richtig cool, möchte man sagen. «Ja», freut sich auch Ilona Schmiel, die bislang mit Beethoven mehr zu tun hatte als mit Maschinenbau. «Das Zahnrad ist doch ein gutes Bild: Da sind die Zähnchen, die ineinandergreifen, damit es weitergeht, damit es vorwärtsgeht, damit alles in Bewegung bleibt.»
An der Beethovenstrasse in Zürich waren bisher Büros des Tonhalle-Orchesters untergebracht, und das Beethoven-Fest in Bonn war Ilona Schmiels berufliche Heimat, bevor sie nach Zürich gewechselt hat. Hier an der Zahnradstrasse, gleich neben dem PrimeTower, in den alten Maag-Fabrikhallen, wird nun also während der Umbauzeit der alten Tonhalle Beethoven gespielt – und natürlich auch das breite Spektrum, das sich unter dem weiten Begriff «klassische Musik» zusammenfassen lässt.
Kreative Atmosphäre
Ilona Schmiel sitzt in ihrem Büro mit grossen Fenstern nach draussen und kleineren nach drinnen zu den Kollegen, die nebenan arbeiten. «Büromässig fühle ich mich hier sehr zuhause», sagt sie. «Zum ersten Mal arbeiten wir alle zusammen auf einer Etage. Das ist eine optimale Situation, um Umbrüche und Aufbrüche organisatorisch zu bewältigen.» Ausserdem haben vor Jahren in diesem Raum schon die Brüder Freitag gesessen und ihre legendären Taschen entworfen. Kreativität liegt also in der Luft.
Seit Ende September spielt das Orchester hier im Provisorium, das schon jetzt viele auf Dauer behalten wollen. Die Begeisterung ist gross. «Meines Wissens ist es der einzige Konzertsaal der Welt, den man betreten kann, ohne eine Stufe oder Schwelle überwinden zu müssen. Im übertragenen Sinn: es gibt keine Hemmschwellen. Und schon in dieser kurzen Zeit haben wir festgestellt, dass wir ein zusätzliches Publikum erreichen. Ob das dauerhaft ist, weiss man nicht. Aber die Menschen fühlen sich wohl in diesem Industrie-Ambiente, das bewusst nicht überrenoviert wurde. Man kann die Spuren der Zeit sehen und man kommt dann in diesen grossen Raum, der ein Konzertsaal ist. Dieses Spannungsverhältnis beflügelt Künstler, Veranstalter und Publikum gleichermassen.»
Hinzu kommt die Umgebung mit ihren Restaurants, Bars, Galerien und einem gesellschaftlich sehr durchmischten Umfeld aus – angeblich – rund 160 Nationalitäten, wie Ilona Schmiel beifügt.
Und vor allem: der Saal ist schön mit seinem hellen Holz, und er klingt sehr gut. «Er ist wie ein Instrument, das wir in diesen Industriebau hineingesetzt haben. Und dann die positive Überraschung, dass der Saal noch besser klingt als wir dachten. Der Klang ist direkter, präsenter, transparenter, ist aber auch farbig und hat Wärme.»
Veränderte Spielweise
Eine Umstellung bedeutet der neue Saal allerdings auch für die Musiker, die den Klang der alten Tonhalle verinnerlicht haben. «Jeder Raum wirkt sich aufs Spielen aus», sagt Ilona Schmiel. «Der Raum reflektiert, was an Resonanz kommt, und das verändert natürlich die Spielweise, das Miteinander, die Klangentwicklung. Jeder Konzertsaal verlangt ein eigenes Herangehen. Das ist im Tourneegeschäft normal, dass man versucht, die eigenen Klangvorstellungen sehr schnell zu adaptieren. Hier gilt es auch für unser Orchester, dessen Heimat hier ist, sich darauf einzustellen. Das ist ein Prozess. Und das dauert. Ich finde aber, dass das, was in den paar Wochen geschehen ist, schon sehr weit gediehen ist.»
Zu diesem Urteil sind auch prominente Dirigenten gekommen, die inzwischen hier gearbeitet haben. David Zinman zum Beispiel, der die alte Tonhalle durch seine jahrelange Tätigkeit bestens kennt und ihre Akustik schätzt, ist begeistert von der Tonhalle Maag. «Er war sehr erstaunt und freute sich für das ganze Orchester über dieses Provisorium, das aus seiner Sicht überhaupt nicht provisorisch ist.» Franz Welser-Möst bezeichnet die Halle gar als «Gottesgeschenk». Und Teodor Currentzis hat den Saal an zwei Abenden mit dem Tonhalle-Orchester in einen Hexenkessel verwandelt, so gross war der Jubel.
Natürlich klemmt es auch mal hier oder quietscht es da. Manches, was gemeldet wird, kann sofort behoben werden, anderes geht nicht. So wären beim Publikum zum Beispiel mehr Sitzgelegenheiten im Foyer erwünscht. Eine Bank in der Mitte des Raumes, wie zum Beispiel im Museum, das geht hier nicht. «Damit kommen wir nicht durch. Die Sicherheitsvorschriften sind strikt. In einem Museum hat man auch nicht diese Menge von Menschen, die zur gleichen Zeit kommen, wie bei uns». Sitzplätze im Foyer werden also rar bleiben. Trotzdem ist das Foyer beliebt, insbesondere wegen der Bar, die selbst nach einem Konzert noch umlagert ist.
In-location Tonhalle Maag
Verändert hat sich inzwischen auch das Publikum. Jeder Wochentag hat ein anderes spezifisches Abo-Publikum. «Das auch altersmässig am meisten durchmischte Publikum haben wir am Freitag. Da sind jene, die zum ersten Mal kommen, und die anderen, die uns schon sehr lange verbunden sind.»
Und wie steht es mit dem Coolness-Faktor der Maaghalle beim jungen Publikum? «Der Ort hier macht es auch Jungen einfacher, mal reinzuschauen. Es ist ja nicht so, dass junge Leute nicht in klassische Konzerte gehen, weil sie Beethoven ablehnen. Es ist eher ein Nichtkennen, ein Nichtwissen. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung.»
«Inzwischen gilt die Tonhalle Maag aber schon als In-location», sagt Ilona Schmiel und weist darauf hin, dass auch vermehrt Studenten der Zürcher Hochschule der Künste hierherkommen. Die ZHdK liegt fast nebenan und Studenten bezahlen für jedes Konzert nur zwanzig Franken. «Das kann man während der Ausbildungszeit gar nicht hoch genug schätzen», so Schmiel.
Wenn auf einem Plakat für ein Konzert mit Werken von Alban Berg und Schostakowitsch geworben wird, ist das nicht von vornherein ein Strassenfeger. Wenn darunter aber die Namen Kopatchinskaja und Currentzis stehen, sind die Konzerte Monate im Voraus ausverkauft. «Es war ein grosser Glücksfall, dass wir wussten, dass Patricia und Teodor extrem gerne zusammenspielen. Denn, ja, es hätte auch Gegenwehr geben können, gar nicht nur beim Publikum, sondern auch auf der Bühne. Hier hat es aber funktioniert.»
Es gebe heutzutage zwei Trends, sagt Ilona Schmiel. «Einerseits wächst die Ausrichtung auf bestimmte Künstlerpersönlichkeiten, und andererseits ist der Saal voll, wenn man weiss, dass ein Spitzenorchester, wie zum Beispiel die Berliner Philharmoniker, absolut top ist. Dann ist es egal, was für ein Programm gespielt wird.»
Drei Jahre ist Ilona Schmiel inzwischen in Zürich. Hat sich ihre Sicht auf Zürich und seine Kultur in dieser Zeit verändert? «Ganz positiv ist für mich das Erlebnis, ein Publikum durchaus verführen zu können», antwortet sie.
Und: «Mit mentalen Unterschieden kann ich gut leben. Was mich stört, ist die Fixierung aufs Geld. Das finde ich wirklich unzeitgemäss, weil ich glaube, dass unser Leben und unsere Gesellschaft davon etwas Abstand nehmen müssen. In einer überreichen Gesellschaft – ich formuliere das jetzt mal so – ist das nicht zukunftweisend. Deshalb mein Appell bei vielen Dingen, die wir tun: Hemmschwellen senken, ohne die Qualität zu beeinträchtigen, Zugang schaffen für alle, und gemeinsam in einem Saal sitzen, wo sich etwas mischt, was es sonst nicht gibt. Ich sehe es als positiv, dass es geht. Die Offenheit ist da und der Zeitgeist ebenfalls.»