Das erste Kontingent indischer Soldaten landete im Oktober 1914 in Marseille. Drei Wochen später standen sie im flandrischen Ypern bereits im Pulverdampf der ersten grossen Kriegsschlacht. Sie hatten nur ein rudimentäres militärisches Training hinter sich und wurden zum ersten Mal mit modernen Schusswaffen und Artillerie konfrontiert. Sie trugen immer noch ihre leichte Khaki-Uniform, und damit verbrachten sie den ersten Kriegswinter in den Schützengräben Nordfrankreichs.
Die Soldaten aus dem damaligen Kolonial-Indien waren die ersten Detachemente einer Armada aus der heutigen Südasien-Region (ausgenommen Nepal) von knapp 1,5 Millionen Mann. Ihr Anteil betrug also mehr als die Hälfte der 2,7 Millionen Soldaten, welche Grossbritannien und die Dominion-Staaten Kanada, Australien und Neuseeland in den Krieg warfen. Rund 800’000 Inder kämpften auf den europäischen Schlachtfeldern, die andere Hälfte kam im Mittleren Osten, der Arabischen Halbinsel und in Afrika zum Einsatz.
Vergessener indischer Einsatz
Bei den Hundertjahr-Gedenkfeiern zum Kriegsende hatte sich am letzten Wochenende die Politiker-Crème der führenden Kriegsparteien in Paris versammelt. Niemand sprach vom Beitrag Indiens und den 72’500 Toten, die es allein auf den europäischen Schlachtfeldern zurückgelassen hatte. Indien hatte lediglich seinen Vizepräsidenten nach Frankreich delegiert. Venkaiah Naidu ist selbst in Indien eine blasse Gestalt, der wie alle Regierungsmitglieder von Premierminister Modi völlig in den Schatten gestellt wird. In Paris schien kaum jemand von ihm Notiz zu nehmen.
Darin spiegelt sich weniger Arroganz für ein vieltausendfaches menschliches Kanonenfutter als eine historiografische Vergesslichkeit. Sie kümmerte sich bisher kaum darum, dass anderthalb Millionen Männer für ein fremdes Land kämpften und starben – „For King and Another Country“, um den Titel eines kürzlich erschienen Buchs mit diesem Titel zu paraphrasieren.
Der Vorwurf einer eurozentrischen Geschichtsperspektive, den indische Historiker gegenüber ihren (namentlich britischen) Kollegen erheben, ist allerdings nuancierter. Sie anerkennen, dass im Vergleich zur Fülle von Zeugnissen britischer Kriegsteilnehmer – Briefen, Berichten von Zeitzeugen, Tagebüchern – die allermeisten indischen Soldaten Analphabeten waren, die sich freiwillig zum Dienst gemeldet hatten.
Pro-britische Stimmung
Briefe nach Hause waren rar; sie waren auch unpersönlich gehalten, da sie in der Regel schreibkundigen Kameraden diktiert oder von diesen verfasst wurden. Und sie mussten die Militärzensur passieren, die achtgab, dass Nachrichten über die Schrecken des Kriegs die Stimmung zuhause nicht umkippen liessen und antikolonialen Strömungen Auftrieb gaben. Denn Indiens Beitrag zum Krieg war von Gewicht. Es stellte nicht nur Männer unter die Fahne des Königs, sondern auch enorme Budgetmittel und sorgte für Nachschub von Nahrungsmitteln, Treibstoff und Waffen.
Grossbritannien profitierte zu Beginn des Kriegs von einer pro-britischen Stimmung in seiner Kronkolonie. Die winzige moderne Elite des Landes dachte noch nicht an Unabhängigkeit. (Mahatma Gandhi war eben erst aus Südafrika heimgekehrt). Sie kämpfte für mehr lokale Autonomie innerhalb des britischen Weltreichs, sowie um Anerkennung als vollgültige britische Bürger, was sie im Prinzip bereits seit 1858 waren. Selbst Gandhi rief seine Mitbürger auf, sich zum Kriegsdienst zu melden, wie er dies selber (als Sanitäter) im Burenkrieg in Südafrika getan hatte.
Die Sepoys – das Urdu-Wort für Fusssoldaten – stellten denn auch ihren Mann. Ihre Leistung war namentlich gegenüber dem ottomanischen Gegner und in Afrika von Gewicht. Dort trafen sie auf ein klimatisches und kulturelles Umfeld, das ihnen vertrauter war als der Schlamm, die Kälte und der Einsatz der damals modernsten – und tödlich effizienten – Waffen.
Beerbung der Ottomanen
Im Mittleren Osten waren die indischen Regimenter die hauptsächliche Streitmacht und sorgten dafür, dass Grossbritannien am Ende des Kriegs als regionale Vormacht das Erbe der Ottomanen antreten konnte. Selbst als der Sultan den Krieg zu einem Jihad erklärte, um die vielen muslimischen Soldaten in der gegnerischen Front zum Fahnenwechsel zu bewegen, kam es zu keiner einzigen Meuterei.
Drei Expeditionskorps aus Indien begannen bereits 1914, die Pläne des Sultans zu durchkreuzen. Ein erstes versperrte türkischen Truppen in Syrien den Vormarsch nach Ägypten, ein zweites marschierte nach der Landung in Basra nach Nordirak, um die Ölfelder zu sichern, ein drittes riegelte den Jemen ab und machte (wie T .E. Lawrence) gemeinsame Sache mit arabischen Rebellen.
Von Ägypten aus stiessen indische Verbände in den Sinai vor und „befreiten“ die Heiligen Stätten, sie nahmen am Angriff auf Gallipoli teil, der in einer der grössten Niederlagen der Alliierten endete. Indische Verbände – natürlich immer unter britischen Offizieren – führten eine Kampagne gegen islamistische Freischärler in Libyen durch. Sie verbanden sich dort mit den Truppen, die im Einsatz in Abessinien und zuvor gegen die deutschen Kolonien in Ostafrika aktiv gewesen waren.
Britischer Rassismus
Die Briten verstanden es, den Soldaten die Eroberung des Mittleren Ostens als einen Sieg des Empire – und damit auch des indischen Vizekönigreichs – zu verkaufen. Es war auch ein Sieg der Sepoys, hiess es in Tagesbefehlen, und viele Brothers-in-Arms erhielten für ausserordentliche Einzelleistungen Orden an die Brust geheftet. Dies hinderte viele Offiziere nicht daran, ihre Untergebenen im täglichen Umgang als Mitglieder einer minderwertigen Rasse zu behandeln.
Die „Verbrüderung“ durch den Krieg dauerte denn auch nicht lange. Die Hoffnungen der indischen Autonomisten auf den Dominion-Status verpufften ins Leere. Im Gegenteil, die weltweiten Folgen des Kriegs – Sieger-Justiz, Revolutionäre Strömungen, die grassierende Grippe-Epidemie und für die Kolonialregierung ein neuer Anglo-Afghanischer Krieg – weckten auf der einen Seite Forderungen nach Unabhängigkeit, auf der anderen Seite eine umso grössere Repression.
Unterdrückung der Unabhängigkeitsbestrebungen
Die Angst, dass bolschewistische Ideen auch auf Indien übergreifen könnten, führte nicht (wie versprochen) zu weiteren Reformen, sondern zum Rowlatt Act. Es war ein drakonisches Gesetz, das jede politische Regung sofort und brutal ersticken sollte. Sogar die Royal Air Force wurde im Panjab zur Bombardierung von Dörfern eingesetzt, wo Protestkundgebungen durchgeführt worden waren.
Sepoys, kaum in ihr Dorf zurückgekehrt, sahen plötzlich Flugzeuge über sich, die sie eben noch gewartet und deren Piloten sie salutiert hatten – und die nun MG-Feuer auf sie niederprasseln liessen. Der Wendepunkt kam, als ein britischer Offizier am 19. April 1919 in Amritsar das Feuer auf eine Volksmenge eröffnen liess. Sie hatte sich nach einer Kundgebung in einen Garten namens Jallianwala Baug zurückgezogen. Oberst Reginald Dyer liess den einzigen Ausgang versperren und befahl erst ein Ende des Feuerns, als die meisten niedergemäht waren.
Jallianwala Baug und die enorme Zahl der Opfer – laut britischen Quellen 379, laut indischen über eintausend Tote – wurden zum Fanal britischer Intransigenz und damit gleichzeitig zum Startschuss des Kampfs für eine vollständige Unabhängigkeit.
Die Brothers-in-Arms waren nun wieder Enemies-at-Heart. Der bevorstehende hundertjährige Gedenktag, der 19. April 2019, steht vor der Tür. Diesen wird Indien nicht vorbeiziehen lassen, und London wird sich einer Einladung nicht entziehen können. Grossbritannien hat sich bisher nie für die Tat seines Offiziers entschuldigt. Ob es wohl – nach Willy Brandts Kniefall von Warschau – nächstes Jahr zu einem ähnlichen Demutsakt in Amritsar kommen wird?