Mursi hatte zuerst die Wahlen für die Zeit zwischen dem 27. April bis zum 27. Juni angekündigt. Doch die Kopten begehrten auf, weil die Wahltermine mit dem koptischen Palmsonntag und dem Osterfest zusammengefallen wären. Manche erklärten, Mursi habe absichtlich diesen Zeitraum gewählt, um die Stimmbeteiligung der Kopten gering zu halten. Andere fragen mit mehr Berechtigung: „Zieht Mursi denn nie jemanden zur Beratung bei, bevor er seine Entschlüsse fasst?"
Zwei Monate lang Wahlen
Mursi setzte nach den Protesten den Wahltermin früher an. Sie sollen nun schon am 22. April beginnen. Sie sollen ganze zwei Monate lang dauern, und zwar deshalb, weil es nicht genügend Richter gibt, um die Wahlgänge zu beaufsichtigen. Deshalb wird nicht in allen Provinzen gleichzeitig gewählt. Bei der Abstimmung über die umstrittene Verfassung hatten die Richter einen Boykott angekündigt. Dieser war nicht von allen befolgt worden. Doch offenbar gibt es noch immer eine grössere Zahl von Richtern, die weiter auf dem Boykott bestehen.
Wie schon bei den früheren Wahlen ist das Wahlprozedere kompliziert: Es gibt eine Vorwahl und eine Stichwahl für die zwei Drittel der auf Parteilisten zu Wählenden, sowie separat: eine Vorwahl und eine Stichwahl für ein Drittel unabhängiger Kandidaten. Das ganze soll vier Mal in vier Teilen Ägyptens wiederholt werden.
Juristische Unsicherheiten
Das erste Parlament nach dem Sturz Mubaraks war vom Obersten Verfassungsgericht als ungesetzlich erklärt worden. Dies deshalb, weil das Wahlgesetz, nach dem es gewählt worden war, von dem Gericht als verfassungswidrig eingestuft wurde. Deshalb haben diesmal die Senatoren des ägyptischen Oberhauses, das neue Wahlgesetz, das diesmal gelten soll, dem Verfassungsgericht zur Begutachtung vorgelegt, bevor es promulgiert wurde. Das Gericht fand, zehn Paragraphen verstiessen gegen die Verfassung. Die Senatoren akzeptierten den Befund und formulierten einige der Vorschriften neu. Das meiste waren leicht zu korrigierende Formfehler.
Ungleiche Wahlkreise
Doch es gab auch einen schwerer wiegenden Einwand des Verfassungsgerichts. Er betraf die Ungleichheit der Wahlkreise. Diese benachteiligen die Städte und bevorzugen die ländlichen Regionen. Die Einteilung der Wahlkreise ist schon alt. Das gewaltige Wachstum der Städte in den letzten 20 Jahren hat sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Auch in Bezug auf die Wahlkreise nahmen die Senatoren Änderungen vor. Doch sie genügen schwerlich, um das ganze Ungleichgewicht zu korrigieren.
Da die Muslimbrüder vor allem in den ländlichen Gebieten stark sind, kann man der Bruderschaft vorwerfen, sie verfolge ihre eigenen Interessen.
Nach den Korrekturen wurde der Gesetzesvorschlag nicht zum zweiten Mal dem Verfassungsgericht vorgelegt, sondern als gültig erklärt. Dies bedeutet, dass nun eine Möglichkeit besteht, dass das Verfassungsgericht nach den Wahlen von einem der sich benachteiligt fühlenden Kandidaten angerufen wird. In diesem Fall wird es den Richtern frei stehen, die Klage sofort zu behandeln oder ihr Urteil beliebig lange hinauszuschieben. Daher besteht eine Möglichkeit, dass die Geschichte sich wiederholt. Das Gericht kann unter Umständen auch dieses zweite, nun auf fünf Jahre zu wählende Parlament auflösen, indem es das Wahlgesetz als ungesetzlich erklärt.
Zwei Damoklesschwerter
Das Verfassungsgericht hat auch die Möglichkeit, einen Rechtspruch hinauszuschieben. Damit hinge ein Damoklesschwert über dem Parlament. Wird es aufgelöst oder nicht?
Die Lage der ägyptischen Währungsreserven bildet ein zweites Damoklesschwert für das Land. Die verbleibenden Währungsreserven von 13,6 Mia Dollar genügen im besten Fall, um die lebensnotwendigen Importe für Ägypten für die nächsten drei Monate zu finanzieren. Der IMF möchte erst in Gespräche über eine mögliche Anleihe von 4.8 Milliarden eintreten, wenn die politische Lage sich stabilisiert. Die Wahlen werden aber erst in vier Monaten abgeschlossen sein, vorausgesetzt alles läuft planmässig ab. Erst dann könnte eine Stabilisierung, auf welche Mursi zweifellos hofft, wirklich zustande kommen.
Wahlvorbereitungen der Islamisten
Die Muslimbrüder und die bedeutendste der Salafiten-Parteien, die Partei „Nur“ (Licht), haben beide mit den Wahlvorbereitungen begonnen. Sprecher der Brüder erklären, sie wollten diesmal 55 Prozent der Stimmen gewinnen. 2011 waren es 41 Prozent. Die Partei der Brüder will 80 Prozent ihrer früheren Parlamentarier nicht mehr als Kandidaten aufstellen. Sie sollen durch neue Kandidaten ersetzt werden.
Gegenwärtig bestehen Spannungen zwischen den Brüdern und den Nur-Salafiten. Diese haben erklärt, keine Listenverbindungen mit den Brüdern einzugehen, höchstens möglicherweise mit anderen Salafiten.
Die "Rettungsfront" der Säkularen
Die Hauptopposition besteht aus dem Zusammenschluss von etwa 15 "säkularen" Parteien, der sich "Nationale Rettungsfront" (englisch NSF) nennt. In dieser Front gibt es drei grosse und viele kleine Parteien. Die grossen sind die Partei Baradei's (Verfassungspartei), jene von Hamdeen Sabahy (Ägyptische Volksströmung) und die von Amr Moussa (Ägyptischer Kongress).
Die historische "Wafd"-Partei steht in der Mitte zwischen den kleinen und den grossen Parteien der Front. Die Schar der kleinen steht nicht ganz fest, weil es in der Front vier nasseristische Parteien gibt, neben der ebenfalls nasseristischen "Volksströmung" von Sabahy, die zur Zeit darüber verhandeln, ob sie eine einzige Partei werden wollen.
Boykott, Alleingang, Zusammenschluss?
Die NSF-Führer, Baradei, Sabahy und Moussa, forderten bisher, Mursi müsse mit ihnen verhandeln, bevor die Wahlen durchgeführt würden. Als Vorbedingung für solche Verhandlungen verlangten sie eine Zusage, dass die Wahlen verschoben, die Verfassung revidiert und der von Mursi eingesetzte Oberste Staatsanwalt wieder abgesetzt werde. Mursi ist nicht darauf eingegangen. Baradei hat nun auf Twitter erklärt: er werde bei diesen Wahlen nicht mitwirken. Er wolle sich nicht für eine Wahlfälschung zur Verfügung stellen.
Doch in der Koalition und bei den zahlreichen Oppositionsparteien wurden Bedenken laut. Ein Boykott der weitaus wichtigsten Teile der säkularen Opposition würde den Brüdern und den Salafisten kampflos das Feld überlassen.
Gemeinsame Listen oder nur Strassenprotest?
Nicht nur über die Boykott-Frage muss die Rettungsfront sich einig werden, auch darüber, ob sie gemeinsame Wahllisten aufstellen will. Davon wurde auch schon gesprochen. Doch ob dies gelingen wird, ist sehr ungewiss. Gemeinsame Listen wären ein klares Zeichen dafür, dass die Rettungsfront wirklich als eine vereinigte politische Kraft auftreten kann.
Für die Wahlkampagne stehen der säkularen Hälfte der Ägypter nur noch knappe zwei Monate zur Verfügung. Nur wenn es ihr gelänge, sich wirklich zu einer schlagkräftigen grossen Koalition zusammenzuschliessen, hätte sie eine Chance, den Brüdern und den anderen islamischen Gruppierungen wirklich die Stirne zu bieten. Wenn es ihr nicht gelingt, bleibt ihr eigentlich nur die Wahl, Mursis Regime für die nächsten fünf Jahre hinzunehmen, wohin immer es führen mag - oder weiterhin auf der Strasse gegen die Islamisten und Mursi zu protestieren.
Weiterhin Politik auf der Strasse?
Noch mehr Strassenproteste würden das Land wahrscheinlich ziemlich rasch zugrunde richten. Zunächst würden die Säkularen und Revolutionäre wohl ihre Gegner aus dem islamischen Lager zu einer immer brutaleren Politik der Aufrechterhaltung der Ordnung zwingen. Für eine solche Politik stünden den Muslimbrüdern und Salafisten im heutigen Ägypten einzig die Polizisten zur Verfügung, die schon unter Mubarak die damalige Art von Ordnung aufrecht erhielten. Sie werden auch die Methoden dieser Epoche wieder anwenden. Andere kennen und beherrschen sie nicht.
Doch eine solche Verhärtung brächte wohl noch mehr und noch radikalere Strassendemonstrationen. Verschärft würde die Lage, weil die wirtschaftliche Not immer schlimmer wird. Not und Verzweiflungsunruhen würden am Ende entweder die Militärs dazu zwingen, erneut einzugreifen - und diesmal wahrscheinlich mittel- bis langfristig. Oder: Das Land würde schon bald in einen Zustand der Unregierbarkeit abgleiten