Neben dem Cheminée in John Kerrys Washingtoner Büro hängt eine gerahmte Einladung zu Barack Obamas Amtseinsetzungsfeier vom 20. Januar 2009. «Ich bin hier wegen dir», hat Amerikas 44. Präsident geschrieben. Das Dankeschön erinnert daran, dass John Kerry 2004 den damals noch unbekannten State Senator aus Illinois als Schlüsselredner zum Parteikongress der Demokraten einlud. Die viel beachtete Rede beim Treffen in Boston lancierte Barack Obamas nationale Karriere. Der Rest ist Geschichte.
Für das Amt prädestiniert
Acht Jahre später hat sich Präsident Obama für Kerrys Gunstbezeugung revanchiert und den 69-Jährigen als 68. Aussenminister der USA nominiert. «In gewissem Sinn hat sein ganzes Leben John auf dieses Amt vorbereitet», sagte Barack Obama bei der Ankündigung im Weissen Haus: «Ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn sich sage, dass nur wenige Individuen so viele Präsidenten und Premierminister kennen oder unsere Aussenpolitik so gut kennen wie John Kerry.» Kerry, so der Präsident, werde sich rasch einarbeiten.
Eigentlich hatte der Senator aus Massachusetts schon 2009 gehofft, als Nachfolger von Condoleezza Rice im State Department einzuziehen. Doch Barack Obama zog ihm überraschend Hillary Clinton vor, ein cleverer Schachzug, band er doch so eine einstige (und allenfalls künftige) Konkurrentin im Kampf um die Präsidentschaft an sich. 2016, nach zwei Amtszeiten, kann die frühere First Lady Obama nicht mehr gefährlich werden. Etliche Anzeichen sprechen dafür, dass Hillary Clinton dannzumal in der Tat kandidieren wird.
Für Obama nicht erste Wahl
Auch diesmal hätte der Präsident lieber eine Frau als Chef im Aussenministerium gesehen. Doch Uno-Botschafterin Susan Rice nahm sich selbst aus dem Rennen, als sich zu erhärten begann, dass der Senat sie nach dem tödlichen Angriff libyscher Terroristen auf das US-Konsulat in Benghazi vom 11. September kaum mehr bestätigen würde. Rice hatte, gestützt auf Angaben der CIA, fälschlicherweise erst mitgeteilt, bei den Angreifern in Libyen handle es sich um Muslime, die wegen eines Mohammed-Videos im Internet erzürnt gewesen seien, und nicht um mutmasslich Al-Qaida-Mitläufer.
So überrascht denn nicht, wenn Barack Obama und John Kerry nicht eben als Busenfreunde gelten. Wobei enge Bekannte beide Politiker im persönlichen Umgang als eher distanziert und reserviert beschreiben. Immerhin, scherzte Obama, seien sie sich jüngst im Präsidentschaftswahlkampf näher gekommen, als John Kerry bei der Vorbereitung der Fernsehdebatten Mitt Romney mimte – dem Vernehmen nach so gut, dass er Barack Obama mitunter ziemlich nervte: «John, ich freue mich darauf, künftig mit dir zu arbeiten statt gegen dich zu fechten.»
Hollywood-Figur? Richtiger Kerl?
Niemand in Washington DC zweifelt daran, dass der hagere, 1,90 Meter grosse Kerry so aussieht, wie sich Hollywood einen Aussenminister vorzustellen pflegt. Sein Name, sein katholischer Glaube und seine markanten Gesichtszüge würden auf eine irische Herkunft schliessen lassen, schrieb 2002 Joe Klein im «New Yorker» über den Senator aus Massachusetts: «Er hat einen Kiefer, der fast nicht enden will. Eine prominente Nase und Augenbrauen, die wie zwei Anführungszeichen neben grau-blauen Augen hängen. Und dann ist da noch sein Haar, das so melodramatisch reich und luftig ist, dass es für seinen langen, dünnen Hals fast zu schwer scheint.» In Wirklichkeit aber stammen John Kerrys Vorfahren väterlicherseits aus Österreich.
Doch tut dem 69-Jährigen Unrecht, wer ihn auf sein Aussehen reduziert. «Es ist ein Fluch für ihn, so auszusehen», sagt sein früherer Senatskollege Bob Kerrey. «Sein Äusseres signalisiert etwas, das er in Wirklichkeit nicht ist.» Auf jeden Fall liessen die Strategen von George W. Bush im Präsidentschaftswahlkampf 2004 keine Gelegenheit aus, John Kerry als Gegenentwurf eines richtigen Kerls zu porträtieren. Sprach der Senator nicht Französisch sowie etwas Deutsch und Italienisch? Surfte er nicht statt zu reiten oder Busch zu roden? Und hatte er nicht, so die infamste und wohl wirksamste Unterstellung der Republikaner, sein Heldentum während des Krieges in Vietnam geschönt?
Vietnam-Held und Kriegsgegner
Im Gegensatz zu George W. Bush, dem es dank seiner familiären Beziehungen gelang, sich vor der Einberufung zum Kriegsdienst zu drücken, diente John Kerry in Vietnam als Kapitän eines Schnellbootes (swift boat), das im Mekong-Delta als Truppentransporter fungierte. Der Leutnant der Marine wurde innert vier Monaten dreimal verwundet und wiederholt ausgezeichnet, unter anderem mit einem «Silver Star» für einen mutigen Gegenangriff, den er mit seinem mit Maschinengewehren bewaffneten Boot auf eine Position des Vietcong am Flussufer lanciert hatte.
Doch der junge Kerry, Absolvent der Elite-Universität Yale, ruhte sich nicht auf seinen Lorbeeren aus. Er, der sich als Sohn eines Diplomaten stets für äussere Angelegenheiten interessiert hatte, begann Amerikas Politik in Südostasien zu hinterfragen und schloss sich den «Vietnam Veterans Against the War» an, einer Anti-Kriegs-Bewegung, die im April 1971 auf der Mall in Washington DC einen lautstarken Protest gegen Richard Nixon inszenierte. Veteranen, unter ihnen Kerry, schmissen ihre militärischen Auszeichnungen und Orden auf die Treppenstufen des Kapitols.
John Kerry wurde zum Sprecher der Kriegsgegner und trat landesweit beachtet vor der aussenpolitischen Kommission des Senats auf: «Wie kann man von einem Soldaten verlangen, der letzte Mann zu sein, der in Vietnam stirbt? Wie kann man von einem Soldaten verlangen, der letzte Mann zu sein, der für einen Fehler stirbt?»
Der «Fehler», so Kerry, war Amerikas Interventionspolitik, ein Vorgehen, das er im zweiten Weltkrieg in Europa für angebracht, später aber in der übrigen Welt nicht mehr für opportun hielt. Die Vereinigten Staaten täten oft das Richtige, wenn sie falsch lägen, und oft das Falsche, wenn sie Recht hätten, hatte er bereits als Student in Yale argumentiert. Der Senator, heisst es auf seiner Website, habe nach der Rückkehr aus Vietnam «einen lebenslangen Kampf für die Rechte seiner Mit-Veteranen» begonnen – aus der Überzeugung, dass Soldaten jeweils für die Fehlentscheide von Politikern büssen müssten.
Betätigung in der unpopulären Aussenpolitik
Jon Kerry studierte Recht, amtierte ab 1976 in Middlesex County als Staatsanwalt und wurde 1982 stellvertretender Gouverneur von Massachusetts. 1984 kandidierte er als 39-Jähriger erstmals für den US-Senat und wurde für eine erste von bisher fünf Amtszeiten gewählt, als jüngerer Kollege (oder Konkurrent) Edward Kennedys. Zu einem Zeitpunkt, da sich die amerikanische Öffentlichkeit (unter Präsident Ronald Reagan) nur wenig für Aussenpolitik interessierte, entschloss sich Kerry, sich dem nicht eben einflussreichen «Foreign Relations Committee» anzuschliessen.
«Doch der Ausschuss beschäftigte sich mit Krieg und Frieden», kommentierte der Senator später seinen Entscheid. «Wir waren dabei, in Lateinamerika einen illegalen Krieg (in Nicaragua) zu beginnen. Eine der Lehren aus dem Krieg in Vietnam betraf das Lügen, bezog sich auf Leute, die der amerikanischen Öffentlichkeit die Wahrheit vorenthielten, und es gab damals deutliche Parallelen zu Lateinamerika.»
Aufdeckung der Iran-Contra-Affäre
Trotz der Skepsis oder gar des aktiven Widerstands etlicher Senatskollegen startete John Kerry eine Reihe von Untersuchungen zur Praxis der Regierung Ronald Reagans, rechte Contras, die gegen die regierenden linken Sandinisten in Nicaragua kämpften, mit Waffen zu versorgen. Diese wiederum wurden entgegen einem Embargo (während des Krieges des Iran gegen den Irak) mit geheimen Waffenverkäufen an die Islamische Republik finanziert («Irangate»).
Kerry wurde zwar 1990 ohne Probleme wiedergewählt. Seine Karriere in Washington DC aber schien mangels guter Freunde nahezu beendet, bis er sich in den 90er-Jahren als Fürsprecher allfälliger amerikanischer Kriegsgefangener in Vietnam erneut einen Namen machte. Der Bericht seines Ausschusses, wonach es höchst unwahrscheinlich sei, dass noch Amerikaner im früheren Kriegsgebiet am Leben waren, ebnete unter Präsident Bill Clinton den Weg zur Normalisierung der Beziehungen mit Vietnam.
Erfahrungen in Europa
John Kerrys Interesse an der Politik wurde laut eigenem Bekunden geweckt, als er nach dem zweiten Weltkrieg als Kind das von den Nazis zerstörte Haus in Frankreich besuchte, in dem seine Mutter, eine Forbes, aufgewachsen war: «Ich erinnere mich noch an eine Treppe, die ins Leere hinaufführte, und ich erinnere mich noch an einen Kamin, der einsam in den Himmel ragte. Das war alles, was übrig geblieben war.»
In den 50er-Jahren lebte die Familie für kurze Zeit im geteilten Berlin, was den jungen Kerry den Kalten Krieg aus der Nähe erleben liess. Er besuchte damals die fünfte Klasse im privaten Institut Montana auf dem Zugerberg, wo er zu den Klassenbesten gehörte. Es war eine Zeit, die er dem «New Yorker» zufolge hasste. So schlimm kann es aber nicht gewesen sein: Immerhin hat Kerry vor zwei Jahren seine alte Schule in der Schweiz wieder besucht.
Heikle diplomatische Missionen
Seit dem Tod seines Freundes Edward Kennedy Anno 2009 leitet John Kerry die aussenpolitische Kommission des US-Senats, eine Position, die er nach dem verlorenen Präsidentschaftswahlkampf erst als eine Art Trostpreis erachtete, dem Vernehmen nach inzwischen aber lieben gelernt hat. Dies umso eher, als ihn Barack Obama mit heiklen diplomatischen Missionen betraute, unter anderem in Afghanistan oder in Pakistan, wo er nach der Ermordung Osama bin Ladens durch US-Navy Seals in Abbottabad die Wogen zu glätten versuchte.
Kerry machte sich ferner erfolgreich für ein Abrüstungsabkommen mit Russland stark, warnte vor den Folgen des Klimawandels und war als Vermittler Washingtons in Ägypten und im Sudan unterwegs. Vor Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien sprach er wiederholt persönlich mit Präsident Bashar al-Assad. Dessen Konzessionsbereitschaft scheint er allerdings überschätzt zu haben.
Der Senator, so die allgemeine Einschätzung, teile weitgehend die aussenpolitischen Ansichten des Präsidenten, und zu diesen gehört eine Politik des direkten Engagements. Doch davon ist bisher zumindest im Fall des Nahostkonflikts nur wenig zu spüren gewesen. Hier glaubt Kerry nach wie vor, Israels Premierminister Benjamin Netanyahu sei zu echten Konzessionen bereit.
Brzezinski hält Kerry für eine exzellente Wahl
Gemäss Zbigniew Brzezinski, der Präsident Jimmy Carters Nationaler Sicherheitsberater war, ist John Kerry «eine exzellente Wahl» für den Posten des amerikanischen Aussenministers. «Er hat viel Erfahrung, kennt ausländische Führer und hat einen guten strategischen Sinn sowohl für das, was gemacht werden muss, als auch für das, was man lassen soll.»
Der Bestätigung John Kerrys im US-Senat dürfte auf jeden Fall nur wenig im Wege stehen. Auch die republikanische Minderheit wird wohl für ihn stimmen, obwohl die Republikaner Kerry einst als Wendehals (flip-flopper) verspottet hatten, weil er 2002 für den Krieg im Irak stimmte, später aber angab, gegen den Krieg zu sein. Opposition könnte ihm höchstens seitens einiger demokratischer Parteikollegen erwachsen, die glauben, Susan Rice, Barack Obamas erste Wahl, sei unfair behandelt worden. Als begeisterter Sportler und Politiker weiss Kerry, was es heisst, zu verlieren. Doch es stört ihn auch nicht, zu gewinnen.
Quellen: „The Washington Post“;, „The New York Times“;, „The New York Times Magazine“; „The New Yorker“, www.kerry.senate.gov