Vor dreissig Jahren zählte die Hauptstadt des Reichs der Mitte noch nicht ganz zehn Millionen Einwohner. Heute sind es nach amtlichen Zahlen 22 Millionen. Vergeblich versuchten die Stadtbehörden den Zustrom der Migranten, Bauern vom Lande, zu bremsen. China und andere Schwellen- und Entwicklungsländer machen eine Erfahrung, welche den heute reichen Ländern wohlbekannt ist aus der Zeit der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert: Verstädterung. Allerdings verläuft der Prozess heute viel schneller als damals und in geradezu gigantischem Ausmass.
Ohne Hukou Bürger zweiter Klasse
Rein ökonomisch betrachtet, haben städtische Gebiete mehr Wohlstand gebracht. Heute gar werden nach Uno-Zahlen rund 80 Prozent des weltweiten Brutto-Inlandprodukts in städtischen Agglomerationen erarbeitet. Die Kehrseite allerdings sind Slums, Favelas, urbane Armut. Rund ein Drittel der Städter auf der Welt, das sind rund eine Milliarde Menschen, lebt in vernachlässigten städtischen Randgebieten.
In China lässt sich der Trend zur Verstädterung in den letzten 35 Reformjahren schon fast modellhaft verfolgen. Rasantes Wirtschaftswachstum in den städtischen Zentren von Peking, Shanghai über Guangzhou, Chongqing, Chengdu bis hin zu Dalian, Nanjing oder Harbin. Slums sind (noch) nicht entstanden, doch die Gefahr wächst, denn die Anzahl der in die Städte strömenden billigen Arbeitskräfte, bäuerliiche Migranten, steigt.
In Peking beispielshalber sind von den 22 Millionen Einwohnern 7,8 Millionen Wanderarbeiter, in Shanghai sind es von 24 Millionen fast 10 Millionen und in Chongqing, der grössten Stadt der Welt, sind es von 32 Millionen deutlich über 10 Millionen. Die chinesischen Migranten haben gegenüber den Städtern einen markanten Nachteil. Sie verfügen nicht über ein aus der Zeit der Planwirtschaft stammendes „Hukou“, eine Aufenthaltsbewilligung, die Wohnrecht, Schule für die Kinder und weitere städtische Dienstleistungen beinhaltet. Die Migranten sind also nach wie vor Bürger zweiter Klasse.
Exorbitanter Finanzbedarf
Die Führung von Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping und Permier Li Kejiang hat schon vor zwei Jahren bei der Präsentation des neuen Wirtschaftsmodells – vom export- und investitionsorientierten Wachstum hin zu mehr Binnennachfrage, Konsum, Innovation und Nachhaltigkeit – unter den Reformen auch eine Neuordnung der „Hukous“ in Aussicht gestellt. Die Hukou-Reform soll auf gutem Wege sein, denn ungleich den andern notwendigen Reformschritten (Finanzen, Staatsfirmen etc.) sind hier keine eingefleischten Interessen tangiert. Allenfalls wird ein Murren der wachsenden städtischen Mittelklasse in Kauf genommen.
Die Reform der „Hukous“ allerdings ist nicht gratis. Hohe Kosten für die Kommunen sind damit verbunden. Im Pekinger Volkskongress wurde von einem Abgeordneten im Frühjahr die Zahl von 100‘000 Yuan (umgerechnet rund 15‘000 Franken) pro Wanderarbeiter genannt. Was das für die Städte bedeuten könnte, kann man sich mit einer andern Zahl ungefähr ausmalen: Wenn nach amtlichen Prognosen bis ins Jahr 2035 rund 400 Millionen Chinesinnen und Chinesen in die Städte strömen, wird der Finanzbedarf exorbitant.
Nach dem neuen Wirtschaftsmodell soll der Urbanisierung eine tragende Rolle zukommen. Das hat sich Premier Li Kejiang vorgenommen. Zu den neuen „vier Modernisierungen“ jedenfalls gehören neben Industrie, Landwirtschaft, IT-Technologie auch Urbanisierung. Ende des letzten Jahres lebten in China laut offiziellem Census 740 Millionen Menschen in Städten, davon 260 Millionen zugewanderte Bauern. Das ergibt eine Urbanisierungsquote von 54 Prozent. Dieser Anteil soll bis ins Jahr 2050 auf 74 Prozent oder knapp über einer Milliarde Einwohner erhöht werden. In der Mitte des Jahrhunderts soll es im Reich der Mitte 2‘000 Städte geben, davon 200 Millionenstädte. Die Planer in Peking rechnen dannzumal mit 30 Agglomerationen mit mehr als 5 Millionen und 15 mit mehr als 10 Millionen Einwohnern. Soweit die nackten Zahlen.
„Nicht über Nacht“
Was da wirtschaftlich, sozial und finanziell auf die städtischen Behörden zukommt, ist ebenso atemberaubend. Es geht um Arbeitsplätze, Wohnraum, Schulen, Spitäler, Strassen, Kanalisation, Wasserversorgung, Strom, Erdgas oder Erdöl. Chinesische Ökonomen, Politiker und Städteplaner plädieren nun für eine Verlangsamung der Urbanisierung. Nur so sei eine umweltgerechte und vor allem finanzierbare Entwicklung überhaupt möglich. Li Kejiang wird denn nicht müde, zu betonen, dass eine erfolgreiche Urbanisierung mittels Reformen „nicht über Nacht erzielt werden kann“.
In den westlichen Medien wird die Verstädterung Chinas meist mit Unverständnis beobachtet. Thema von Berichten sind oft die mit Krediten finanzierten Geisterstädte (Guicheng), groteske Nachahmungen von europäischen Häuserzeilen mit Eifelturm oder Brandenburger Tor im Masstab 1:3 oder 1:4 inbegriffen. Nicht unweit meiner Wohung in Peking zum Beispiel gibt es eine Ladenstrasse, in der man sich mitten in Oesterreich, z.B Walchen, wähnt mit einer schmucken Häuserzeile 1:1. Das aber sind Ausnahmen, Randerscheinungen, die sich aber gut fürs Fernsehen oder als Anreisser in Zeitungen eignen.
Westliche Brille
Die Architekturkritiker oder Städteplaner des Westens beobachten die chinesische Entwicklung meist mit der eurozentristischen oder amerikanischen Brille. Ausländer in Peking beispielsweise kritisieren den Umgang der Stadtbehörden mit den traditionellen Quartieren der Hutongs. In Peking wie anderswo allerdings wird von einem ganz andern historischen Ausgangspunkt nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ vorgegangen. Ob das besser oder schlechter als einst in Europa ist, sei dahingestellt. Den europäischen Kritikern sei ein Blick auf die Altstädte Europas vor fünfzig, hundert oder hundertfünfzig Jahren empfohlen. Eben.
Urbanisierung jedenfalls steht ganz oben auf der Traktandenliste der chinesischen Führung, beraten durch chinesische und ausländische Städteplaner, Architekten, Sozialwissenschafter und Ökonomen. Premier Li Kejiang weiss, wovon er redet, denn er hat an der Pekinger Elite-Universität Beida promoviert mit einer Arbeit über Stadt-Land-Modernisierung. In Planung ist jetzt für die Hauptstadt eine Megalopolis von rund 130 Millionen Einwohnern entlang dem sogenannten Peking-Tianjin-Korridor. Es soll ein Labor für das moderne Städtewachstum werden. Liu Gang, Professor an der Nankai-Universität in Tianjin, sagte in einem Interview mit der „New York Times“, dass die „Superstadt die Avangarde der wirtschaftlichen Reform ist und die Sicht der Führung für Integration, Innovation und Schutz der Umwelt reflektiert“.
Stadt mit 130 Millionen Einwohnern
Bei diesem Mega-Projekt soll Peking in den nächsten zwanzig Jahren die Rolle der kreativen Kultur, der wissenschaftlichen Forschung und der Spitzentechnologie übernehmen, derweil Tianjin und die umgebende Provinz Hebei Industrieproduktion, Handel und Logistik noch mehr ankurbeln sollen. Die ganze Region wird dann neu unter dem Namen Jing-Jin-Ji firmieren (Jing für Beijing, Jin für Tianjin und Ji für den traditionellen Namen der Provinz Hebei). Diese Grossregion mit rund 130 Millionen Einwohnern auf einer Fläche von 210‘000 Quadratkilometern – rund fünfmal die Schweiz – wird dann innerchinesisch mit den Gross-Agglomerationen und Wirtschaftsräumen Yangtse-Fluss-Delta um Shanghai und Perlfluss-Delta rund um Kanton und Shenzhen bei Hongkong konkurrieren.
Wie das Pekinger Riesen-Experiment sich entwickeln wird, ist natürlich ungewiss. Bereits haben die Stadtbehörden beschlossen, den grössten Teil der Verwaltung in den Vorort Tongzhou zu verlegen. Prompt sind dort die Wohnungspreise nach oben geschnellt. Wichtig bei der ganzen Planung ist die Infrastruktur. Die Pekinger Behörden haben in den letzten dreissig Jahren gute Arbeit geleistet. Die Untergrundbahn bestand 1986 bei meiner Ankunft in Peking aus zwei Linien. Heute sind es 16. Zwischen 2001, der Vergabe der Olympischen Spiele 2008, und heute sind rund 600 Kilometer U-Bahn gebaut worden. Bis ins Jahr 2020 werden nochmals 500 Kilometer dazu kommen. Ähnliches lässt sich vom Strassen- und Autobahnbau sagen. Seit meiner Ankunft in Peking sind die dritte, vierte, fünfte und sechste Ringstrasse hinzugekommen.
Mit 300 km/h übers Land
Entscheidend für Jing-Jin-Ji aber wird das Netz der Hochgeschwindigkeitszüge sein. China hat in Weltrekordtempo landesweit ein Netz aufgebaut, das weltweit seinesgleichen sucht. Bei der Planung der neuen Megalopolis nun werden die mit bis zu 300 Kilometern pro Stunde übers Land flitzenden Eisenbahnen eine wichtige Rolle spielen. Schon heute ist die 120 Kilometer entfernte Hafenstadt Tianjin von Peking aus in 35 Minuten zu erreichen. Weitere Verbindungen sind bereits im Bau, so unter anderem nach der Grossstadt Tangshan – auch Teil von Jing-Jin-Ji – oder Zhangjiakou, jener Stadt in den Bergen, wo 2022 die Schweizer Wintersportler olympisches Gold holen werden.
Die Hochgeschwindigkeitszüge haben die Dimensionen von Städten gewaltig erweitert, denn als Faustregel gilt: eine Stunden pendeln, nicht mehr. Doch heute im Alltag ist das Pendeln in Peking noch immer extrem mühsam. Ich kenne chinesische Kolleginnen und Kollegen, die täglich drei bis fünf Stunden in Bus und U-Bahn unterwegs sind. Mein Arbeitsweg dagegen dauert gerade einmal dreissig Minuten. Zu Fuss. Ich bin privilegiert und wohne mitten im verdichtet gebauten Zentrum des Pekinger Business-Distrikts. Im obersten Stock eines Hundertzehn-Meter-Hochauses in einer von einem japanischen Architekten entworfenen Siedlung von siebzehn Wolkenkrazern. Und fühle mich wohl. Igiit! – wie kann man nur, würde da wohl ein Schweizer Stadtplaner nasenrümpfend hauchen.