Offiziell wurden 98 % Ja-Stimmen gezählt. Die Wahlbeteiligung sei bei fast 73% gelegen, teilte der Innenminister mit. Die sehr hohe Zustimmung tönt unwahrscheinlich. Sie ist aber nicht unmöglich, weil die Opposition zur Stimmenthaltung aufgerufen hatte.
Zu den Befürwortern eines "Ja" hatten alle legal zugelassenen Parteien gehört. Auch sämtliche Zeitungen hatten auch für ein "Ja" geworben. Auf den Strassen demonstrierten Tausende für die Verfassungsreform. Die Grossmanifestationen waren ohne Zweifel von den Behörden begünstigt, wenn nicht gar animiert worden.
Auch die Gegner der vorgeschlagenen Reform waren auf die Strassen gegangen. Gelegentlich stiessen sie mit den Befürwortern der Reform zusammen. Diese zeigten sich kampfesfreudiger als ihre bewusst gewaltlos vorgehenden Gegner. Die Polizei soll mehr zugeschaut als eingegriffen haben.
Vom König ausgearbeitet, nicht vom Volk
Die Gegner der vorgeschlagenen Verfasungsänderung störten sich daran, dass das Vertragswerk vom König selbst und nicht vom Volk ausgearbeitet wurde. Sie wiesen darauf hin, dass König Mohammed VI. und schon sein Vorgänger Hassan II. oft von Reformen gesprochen hatten. Doch wirkliche Änderungen folgten nie, und die königliche Allmacht wurde nicht eingeschränkt.
Die nun angenommene Verfassung geht allerdings weiter auf eine demokratische Staatsform zu als alle vorausgegangenen. Sie bleibt jedoch in entscheidenden Punkten zweideutig.
Der König behält sich die Macht vor, die "Sicherheitskräfte" zu beaufsichtigen und im Notfalle einzusetzen. Ob dies nur die Armee betrifft oder auch die Polizei und die Geheimpolizeiapparate, sagt der Text nicht.
Der König kann auch in das parlamentarische Geschehen eingreifen. "In Konsultation" mit dem Ministerpräsidenten und mit anderen Spitzen der staatlichen Institutionen, kann er den Regierungschef oder einzelne Minister der Regierung entlassen. Der Text sagt nicht, ob er sich an das Ergebnis dieser Konsultationen halten muss.
Die neue Verfassung garantiert ausdrücklich Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Richter. Doch das hatten schon frühere Verfassungen getan, ohne dass sich die Lage der Medien oder jene der Richter wirklich verändert hätte.
Mehr aber nicht alleinige Macht des Ministerpräsidenten
Der Ministerpräsident wird künftig vom König aus jener Partei ausgewählt, welche im Parlament eine Mehrheit besitzt. Er wird die Geschicke des Landes von Tag zu Tag leiten und für das Tun und Lassen der Regierung verantwortlich sein. In der Praxis wird er das tun können, solange der König ihm zustimmt.
Doch es wird auch einen Sicherheitsrat geben, dessen Vorsitz der König ausübt und der sich mit Sicherheitsfragen und solchen der Aussenpolitik zu befassen hat. Vermutlich werden seine Massnahmen und Vorschriften für den Ministerpräsidenten bindend sein. Der Verfassungsvorschlag macht dies nicht ausdrücklich klar.
Ein Verfassungsgericht ist vorgesehen, dessen Entscheidungen in derartigen Fragen wegweisend werden dürften. Doch sind die Richter unabhängig?
Der Hof als Gegenpol des Parlamentes
Wenn alles glatt liefe und keine inneren Streitfragen ausbrächen, könnte Marokko unter der neuen Verfassung demokratisch regiert werden. Doch Streitfragen und Machtkämpfe wird es unvermeidlich geben. Der König behält sich vor einzugreifen und zu entscheiden. Dies ist gewiss umsichtig, und es dient der Stabilität. Der demokratische Hochseilakt wird mit einem Sicherheitsnetz funktionieren. Doch wie eng dieses Sicherheitsnetz die Akrobaten auf dem hohen Seil einengen wird, dürfte sehr wesentlich davon abhängen, wie viel Aktionsfreiheit der Herrscher seinen Bevollmächtigten und Höflingen gewährt.
In der Vergangenheit waren sie es, welche die parlamentarischen Regierungen weitgehend dominierten. Sie werden versuchen, dies weiterhin zu tun, "im Interesse der Dynastie", wie sie versichern werden.
Nur wenn der König selbst den Einfluss dieser Bevollmächtigten und Höflinge beschränken wird, besteht die Hoffnung auf eine Entwicklung der demokratischen Institutionen. Dazu müsste Mohammed die Gerichte ermutigen, gegen alle Art von nicht-verfassungsmässiger Machtausübung einzuschreiten.
Ein Ende der Demonstrationen?
Die Oppositionsbewegung ist im Augenblick durch die neue Verfassung und den Vertrauensbeweis, den die grosse Mehrheit der Bevölkerung ihr ausgesprochen hat, geschwächt. Doch sie wird unvermeidlich erneut auf die Strassen ziehen. Falls die neue Verfassung "nichts ändert" wird sie neuen Auftrieb erhalten und neue Glaubwürdigkeit gewinnen.
Die Oppositionellen argumentieren, dass es keine halbe oder Dreiviertel-Demokratie geben könne, sondern nur eine volle Demokratie mit voller Verantwortung durch die gewählte Regierung. Der König hätte dann nur noch eine symbolische, repräsentative Stellung. Es liegt nun an Mohammed VI. zu beweisen, dass er Demokratie will.