Was für ein Glück, wenn man so Klavier spielen kann. Mit solcher Leichtigkeit. Mit dieser Ernsthaftigkeit. Mit derart unbekümmerter Freude, Energie und Liebe. Jan Lisiecki sitzt am Flügel, konzentriert sich ganz kurz, dann greift er kraftvoll in die Tasten, die Finger rasen, es reisst ihn fast vom Schemel. Wie im Rausch nimmt er das Publikum mit auf diese musikalische Reise.
Chopin – ungestüm und kitschfrei
„Good Evening, and thank you so much…!“ bedankt er sich anderthalb Stunden später mit wohlklingender, kräftiger Stimme beim Publikum, das nach dem Konzert begeistert applaudiert und gar nicht aufhören will. Und, na klar, es gibt natürlich eine Zugabe und sofort herrscht wieder Stille im Saal. Noch einmal Chopin. Das haben die Leute immer gern.
Nur, so wie Jan Lisiecki Chopin spielt, so haben es viele noch nie gehört: ungestüm und kitschfrei, trotzdem mit zarter Transparenz, dort, wo es eben sein muss.
An diesem Abend spielt er in Baden im Rahmen der Konzertreihe „Piano District“. Bach, Mendelssohn und Chopin stehen auf dem Programm und die Neugier ist gross auf den jungen Pianisten, dem so viel Lob vorausgeht. Der SPIEGEL bezeichnet ihn gar als Genie.
Sohn polnischer Einwanderer in Kanada
Wer aber ist dieser Jan Lisiecki und wie ist er? Ganz unkompliziert, natürlich und charmant. Das zeigt sich, als wir uns am Tag vor dem Konzert in einem Lokal in Baden treffen. Blonder Wuschelkopf, gross und schlank, sportlich gekleidet und mit Brille. Noch keine 20 Jahre alt, in Kanada als Sohn polnischer Einwanderer geboren und aufgewachsen, Klavierunterricht seit dem Alter von fünf Jahren – so steht es in den Informationen über ihn. Und nun sitzt er da. Weiss er überhaupt, wo er jetzt ist, da er ja alle paar Tage an einem anderen Ort auftritt. „Natürlich weiss ich das“, lacht er und strahlt. „Ich weiss immer wo ich gerade bin und ich freue mich jetzt schon darauf, zu Fuss durch Baden zu spazieren und mir den Ort anzusehen.“
Müsste er denn nicht eigentlich üben, wenn er auf Konzert-Tournee ist? „Ach, ich übe so wenig wie möglich. Manchmal sind es vier Stunden, manchmal eine und heute keine…“ Aber wären die Klavierübungen nicht wenigstens ein bisschen Gymnastik für die Finger? „Ja, aber dafür verliert man den Spass am Spielen und die Fähigkeit, im entscheidenden Moment kreativ zu sein. Im Gegensatz zu anderen Künsten, entsteht Musik in jedem Moment neu.“
Arbeit und eine Portion Glück
Dass Jan Lisiecki mit fünf Jahren schon angefangen hat, Klavier zu spielen, hatte nichts mit seiner Familie zu tun. Dort ist man kaum musikalisch. „Ein Lehrer merkte, dass ich voller Energie war und immer aktiv. Er schlug vor, dass ich ein Instrument lernen sollte. Also fing ich damit an…“ Mit neun Jahren gab er erste Konzerte, bekam Auszeichnungen, wurde in Kanada zum “Justin Bieber der klassischen Musik“, beendete nebenher die Schule und übersprang dank seiner überragenden schulischen Leistungen gleich drei Klassen. Namhafte Künstler wie Pinchas Zukerman oder Yo-Yo Ma musizierten mit ihm und die renommierte Plattenfirma „Deutsche Grammophon“ nahm ihn im Alter von 16 Jahren bereits unter Vertrag. Entstanden ist eine CD mit Chopin-Etüden und eine andere mit Mozart-Klavierkonzerten. Atemberaubend.
„Eigentlich habe ich nie davon geträumt, Musiker zu werden“, sagt er. „Es hat sich einfach so ergeben. Und jetzt gefällt es mir sehr, unterwegs zu sein, neue Leute zu treffen, andere Orte kennenzulernen. Bis jetzt hat das alles ganz gut funktioniert. Neben Arbeit war natürlich auch eine Portion Glück dabei, sagen wir, eine Mischung aus allem.“
Andere Jugendliche in seinem Alter hören Pop und Rock, Jan Lisiecki spielt Mozart und Chopin. Als musikalischen Aussenseiter sieht er sich trotzdem nicht. „Pop, Rock und Jazz höre ich auch. Aber Klassisches ist doch die reinste Musik, sie ist so komplex, die Harmonien berühren, der Rhythmus fasziniert. Klassische Musik hat einem so viel zu sagen und das geniesse ich sehr.“
Jan Lisiecki tritt als Solist auf, aber auch regelmässig mit Orchestern. Macht das einen Unterschied für ihn? „Alleine zu spielen, gibt einem viel Freiheit“, sagt er. „Aber man ist gleichzeitig sehr exponiert. Es bietet einem aber auch die Möglichkeit, in letzter Minute an der Interpretation noch etwas zu ändern.“
Ersatz für Martha Argerich
Gemeinsam mit einem Orchester aufzutreten, bringt wieder andere Vorteile. „Man ist von Kollegen umgeben, die Liebe und Leidenschaft zur Musik mit einem teilen und manchmal entsteht dabei völlig Unerwartetes. Das kann magisch sein, oder ganz schrecklich… Auf jeden Fall ergibt es eine neue Dimension. Alleine zu spielen, bringt einen nah ans Publikum, aber der Klang eines ganzen Orchesters, das mit einem zusammen spielt, das ist halt auch phantastisch…“
Wobei: Ganz alleine ist Jan Lisiecki ohnehin nie auf der Bühne. Es gibt ja schliesslich noch den Flügel. Und zwar an jedem Ort einen anderen. Liebe auf den ersten Blick ist das nicht immer. „Ich gebe mir aber grosse Mühe, die positiven Seiten eines Instrumentes zu finden. Jeder Flügel hat seine Stärken und seine Schwächen. Manchmal allerdings mehr Schwächen als Stärken“, sagt er halb scherzend. „Das ist manchmal eine echte Herausforderung. Aber dann sage ich mir, dass das ja nur für mich ein Schock ist. Das Publikum dagegen ist an das Instrument gewöhnt.“
Vor zwei Jahren hat sogar Claudio Abbado, einer der grössten Dirigenten unserer Zeit, an einem seiner letzten Konzerte auf den damals noch 18-jährigen zurückgegriffen als Martha Argerich als Solistin ausgefallen war. Eine Riesen-Chance für den Teenager. „Vor allem fühle ich mich wahnsinnig geehrt“, sagt Lisiecki rückblickend. „Und es war ein grosses Privileg. Abbado live zu erleben, ist ein Geschenk. Ihm persönlich zu begegnen und mit ihm zu arbeiten, ist aber noch einmal ein ganz anderes Geschenk. Natürlich ist es schwer, in die Fussstapfen von Martha Argerich zu treten. Ich wusste, das Publikum würde ohnehin enttäuscht sein, wenn sie nicht auftritt. Aber ich wollte ihm trotzdem einen magischen Abend bescheren“. Das ist Jan Lisiecki gelungen. Und nervös sei er eigentlich nicht dabei gewesen, meint er heute. „Ich wusste nicht, dass Maestro Abbado Solisten, die ihn nicht wirklich überzeugen, nach der ersten Probe wieder wegschickte. Ich wusste nur, dass in der Zusammenarbeit mit solchen Musikern Magie entsteht und da hat Nervosität gar keinen Platz. In diesem Moment habe ich mich gefühlt wie in einer anderen Welt.“
Lugano, Verbier, rund um die Welt
Wegen seiner polnischen Wurzeln wird Jan Lisiecki immer wieder auf Chopin angesprochen. „Ich bin in Kanada geboren, ich bin Kanadier und ich begegne Chopin ‚kanadisch‘.“ In seinem Fall heisst das, weniger schwer, luftiger und kein Rubato. „Das wäre mit Sicherheit ganz anders, wenn ich in einer polnischen Musikschule gewesen wäre, wo man mir gesagt hätte: so ist Chopin und so muss man ihn spielen. Ich gehe ohne solche Belehrungen an die Musik heran.“
Rund 100 Konzerte gibt er pro Jahr, ein Pensum, das ihm sehr gefällt. Mindestens zweimal wird er dieses Jahr auch noch in der Schweiz auftreten, am 30. Januar in Lugano und im Sommer am Verbier-Festival. Dazwischen geht es rund um die Welt.
Atemberaubend.