Kamel Daoud, der algerische Autor, hat in der New York Times am 22. November einen brillant geschriebenen Meinungsartikel verfasst. Dadoud ist mit seiner "Gegenuntersuchung" des "Étranger" von Camus berühmt geworden. Betitelt hat er sein Werk mit "Meursault, une contre-enquête".
In seinem Aufsatz für die New York Times weist er darauf hin, dass die Ideologie des IS (er gebraucht die arabische Abkürzung Daesh) aus Saudi-Arabien komme. Er findet sehr eingängige Formeln wie: "Daesh a une mère: l’invasion de l’Irak. Mais il a aussi un père: l’Arabie saoudite et son industrie idéologique". 1)
Die "schwachen Glieder" der Gesellschaft
Daoud ist nicht der Erste, der darauf hinweist, dass die Ideologie, die von Saudi-Arabien aus mit viel Aufwand über die ganze islamische Welt ausgebreitet wird, die gleiche ist wie jene, auf welche der "Islamische Staat" (IS) sich beruft, um seine Anhänger zu ihren Untaten zu motivieren.
Er schildert diesen Sachverhalt einleuchtend. Er betont, wie stark der Islamismus gerade auf die "schwachen Glieder" der muslimischen Gesellschaften einwirkt, "von unten her". Er meint "die Haushalte, die Frauen, das ländliche Milieu". "Tausende Zeitungen und Fernsehstationen" dienten diesem Zweck. Sie werden von Saudi-Arabien finanziert.
Salafisten und IS-Anhänger
Inwieweit trifft die These von Daoud zu? Ist Saudi-Arabien und der dort geübte sowie und von dort aus verbreitete Islam wirklich der Vater des IS?
Ideologisch gesehen dürfte dies weitgehend der Fall sein. Wie die radikalen Islamisten des IS oder al-Qaedas predigen die Gottesgelehrten der Saudis, dass Kritiker ihrer Form des Islams den Tod verdienen. Sie anerkennen allerdings in der Praxis eine weitere Autorität, jene des Herrschers, der über derartige Fragen mit zu befinden hat. Dies macht den Hauptunterschied zwischen den sogenannten "Salafisten" und den Anhängern des "radikalen" Islamismus des IS oder von al-Qaeda.
Die Ideologie, welche eine Rückkehr zu den vermeintlichen Ursprüngen der Religion fordert, ist die gleiche. Doch die Salafisten wollen ihren "islamischen Staat" auf dem Weg der Predigt erreichen und akzeptieren für die Gegenwart die Oberhoheit der bestehenden Obrigkeit. Solange die Muslime - in ihrem Fall die salafistisch orientierten Muslime - als solche leben und predigen können.
Mit Gewalt durchsetzen
Die Leute des IS oder der Qaeda erheben den Anspruch, selbst die Obrigkeit zu bilden. Man muss Kamel Daoud recht geben. Die Anerkennung der Legitimität der Obrigkeit ist für die salafistischen Anhänger der islamistischen Ideologie bloss eine taktische Konzession, die ihrer Grundthese - jener der Rückkehr zum reinen und ursprünglichen Islam des Propheten (so wie er ihnen erscheint) - eigentlich widerspricht. Sie gehen - vorläufig - eine Konzession ein, die sich nicht aus ihrer Ideologie, sondern daraus ergibt, dass die bestehenden Realitäten der gegenwärtigen unvollkommenen Welt sie zurzeit erfordern.
Die radikalen Islamisten lehnen die Konzession ab und sehen sich daher berechtigt, ja veranlasst, ihre Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen und sich selbst zu Machthabern aufzuschwingen. Man muss daher Kamel Daoud recht geben: die Ideologie wird von Saudi-Arabien aus verbreitet. Der IS und al-Qaeda wenden sie nur konsequenter an.
An den Wurzeln bekämpfen
Daoud selbst erwähnt den Einwand: Die Saudis selbst sind vom IS bedroht, wie können sie ihn fördern? Und er erklärt diesen Widerspruch durch den Widerspruch, den man im Inneren des Königreichs findet, zwischen den Geistlichen des wahhabitischen Islam-Puritanismus und den Herrschern in ihrem amerikanisch gefärbten Luxusleben. Die Geistlichen legitimieren die Herrscher, aber sie stellen sie auch in Frage, durch ihre Lehre.
Den westlichen Mächten und ihren Führungspersonen ruft Daoud zu: Der Islamismus ist eine "Kultur", wenn ihr ihn nicht an der Wurzel seiner Ideen bekämpft, sondern nur in seinen äusseren Manifestationen, wird er nicht untergehen, sondern sich immer wieder erneuern. "Si on ne comprend pas cela, on perd la guerre même si on gagne des batailles. On tuera des djihadistes mais ils renaîtront dans de prochaines générations."
Es bräuchte Aufklärung
Was Daoud nicht anpackt, ist die Frage, wie denn die Ideen des Islamismus zu bekämpfen wären und von wem? Gewiss geht das nicht mit militärischer Gewalt, wie Daoud auch weiss und andeutet. Es bräuchte "Aufklärung", innerhalb des Islams und über diesen hinaus. Vorbedingung dazu sind - oder wären – Menschenrechte, einschliesslich des Rechtes auf freie Meinungsäusserung, sogar in religiösen Dingen.
Dies ist verboten in Saudi-Arabien und kann die Todesstrafe nach sich ziehen. Es ist auch gefährlich in den meisten Staaten muslimischer Staatsreligion - zunehmend gefährlich. Wäre das nicht der Fall, würde viel mehr Kritik laut werden, sowohl an der spezifisch "puritanischen" Ausrichtung der islamistischen Varianten des Islams, wie auch an der Religion selbst von Seiten jener Personen, die glauben ohne Religion überhaupt auskommen zu können.
Bequeme Allianz mit dem Erdölriesen
Doch in wie kann solche Kritik von aussen kommen, von ausserhalb der islamischen Welt? Die Antwort wäre wohl: Noch weniger als Krieg von aussen die politischen Zustände in der arabischen Welt verbessern konnte, dürfte dies intellektueller Kritik von aussen in Sachen des Religionsverständnisses gelingen. Kritik von Nicht-Muslimen am Islam oder auch nur einzelnen Aspekten der Religion wird immer als Angriff auf den Islam von Aussenseitern und daher natürlichen Gegnern empfunden werden.
Was denkbar wäre, könnte ein energischeres und konsequenteres Bestehen auf den Freiheitsrechten sein, die allein es den Muslimen selbst ermöglichen würden, über ihren Islam kollektiv nachzudenken und allzu eng angelegte Religionsverständnisse zu hinterfragen. Etwas Kritik an den saudischen Zuständen in Bezug auf die Menschenrechte gibt es im Westen. Doch alle Kritik wird gedämpft und oft übertönt, wenn nicht völlig zum Verstummen gebracht, durch die materiellen und politischen Interessen der "Allianz" mit dem Erdölstaat. Daoud selbst äussert den Verdacht, dass die Staaten des Westens nicht fähig sein werden, ihre bequeme Allianz mit dem Erdölriesen zu revidieren.
Ist Saudi Arabien der einzige Vater?
Man kann auch fragen, ob die heutige Hochflut des Islamismus (das heisst der Ideologie, die eine Rückkehr zum angeblich wahren Islam aus der Zeit des Propheten fordert) wirklich nur oder tatsächlich in erster Linie auf die Predigt aus Saudi-Arabien zurückgeht.
Wahrscheinlich liegen die Dinge komplizierter. Dass eine vergleichbare islamistische Tendenz in Indien entstand, wo die Schule von Deoband ebenfalls islamistische Thesen vertritt und sich heute weit ausgedehnt hat, kann als ein Indiz dafür gesehen werden, dass die Ideologie nicht nur auf den saudischen Wahhabismus zurückgeht, sondern auf weiter verbreitete Gegebenheiten, die heute islamweit bestehen.
Die Grundlagen, auf denen die islamistische Ideologie prosperiert, sind durch den Druck gegeben, den in den letzten zwei Jahrhunderten die militärische, wirtschaftliche und kulturelle Übermacht "des Westens" auf die benachbarte islamische Welt ausübte und weiter ausübt. Es handelt sich um eine Ideologie der Abwehr. Sie verspricht die eigene Identität aufrecht zu erhalten und zu verteidigen.
Ideologie als Erfolgsrezept
Wie das Ideologien eigen zu sein pflegt, geht sie dabei höchst einseitig vor. Sie verkündet ein Rezept, das Erfolg verspricht. Sie behauptet, ihm allein sei zu folgen, und das Heil sei gewiss. Ihre Attraktivität liegt letzten Endes in diesem Erfolgsversprechen. Je dringender ein Erfolg benötigt wird und je mehr er vermisst wird, desto attraktiver wird dieses Rezept. Zugegeben, die Verbreitung mit den gewaltigen Finanzmitteln Saudi-Arabiens ist eine Realität. Doch die Wirksamkeit der Ideologie beruht nicht nur darauf, sondern auch auf dem Umstand, dass sie auf Zustände hinweist, die nach Erlösung schreien und dass sie eine solche Erlösung verheisst. Zu unrecht verheisst, weil sie - wie alle bloss ideologischen Lösungen (das heisst alle, die auf einem blossen Gedankengebäude oder abstrakten Konzept beruhen) – danebengreift.
Sie predigt etwas, das von den bestehenden Missständen ablenkt, ohne sie anzupacken. Deshalb schlägt sie illusorische Lösungen vor, ja drängt sie sie auf. In Wirklichkeit sind ihre Lösungen bloss Ablenkung von den real bestehenden Missständen, nicht ihre Bekämpfung und Überwindung.
"Wo bleibt unsere Würde?"
Als "Würde" bezeichnete die arabische Jugend das, was ihr fehlte und was sie erlangen wollte, als sie sich 2011 gegen ihre Tyrannen erhob. Der Versuch misslang. Doch die Forderung bleibt bestehen. Solange sie unerfüllt bleibt, besteht ein Gefälle zugunsten der aus Saudi-Arabien aber auch aus Deoband propagierten Ideologie im gesamten islamischen Raum.
Die Ideologie dient ihren konsequentesten Anwendern, den radikalen Islamisten, als Mittel dazu, um ihren Ideologen in der islamischen Welt - zunächst und wahrscheinlich vorübergehend – zu Macht zu verhelfen. Das tröstliche Adverb "vorübergehend" kann man deshalb setzen, weil Ideologien normalerweise, stets über viel Leiden und manchmal über Generationen hinweg, sich selbst ad absurdum führen.
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1) Die englische Fassung des sehr lesenswerten Artikels findet man HIER
Die französische Originalfassung auf der gleichen Seite.