Kein Stier von Eugène Burnand, kein im Heu schlafender Bauernbub, kein Gespann von Franz Elmiger, kein Ährenfeld von Robert Zünd, kein Alpsegen von Auguste Baud-Bovy. Wer all das in der Ausstellung „LandLiebe – Kunst und Landwirtschaft“ im Kunstmuseum Chur sucht, wird enttäuscht. Es findet sich auch kaum etwas, was wir mit dem idyllischen Begriff „Landliebe“ verbinden – nicht Charles Girons Liebespaar vor silbrig glänzendem Bergbach zum Beispiel und gar nichts Symbolistisches von Segantini. Stattdessen: Hors-Sol-Kultur, Heutücher, Heuhaufen, Fotos zerfallender Bauten im Alpengebiet, reihenweise aquarellierte Äpfel.
Der Korbiniansapfel
Bleiben wir bei diesen Äpfeln (Bild oben). Die postkartengrossen Aquarelle malte Korbinian Aigner (1885–1966). Er stammte aus Bayern, war Priester und passionierter Züchter von Äpfeln. Und er war beherzt und predigte gegen die Nazis, was ihm KZ-Aufenthalte eintrug. Auch in Dachau frönte er im Geheimen seinem Hobby und züchtete zwischen zwei Baracken einen Apfel, den er „KZ-3“ nannte. Heute heisst er offiziell „Korbiniansapfel“. An der documenta 13 in Kassel waren über 400 dieser Apfelbilder zu sehen. Es soll insgesamt mehr als tausend geben. Viele davon zeigt das Bündner Kunstmuseum in „LandLiebe“.
Ob Korbinian Aigner sich als Künstler verstand? Kaum. Er war volksverbundener Pfarrer und erfolgreicher Apfelfachmann. Sein malerisches Werk mutet wie ein wissenschaftliches Inventar an, und folgerichtig gehört es heute nicht einem Kunstmuseum, sondern der Technischen Universität München. Manche Bilder zeigen Apfelsorten, die es im Einerlei der Grossverteiler längst nicht mehr gibt.
Künstliche Natur
Ist Landwirtschaft Kunst? Wie beschäftigt sich Kunst mit Landwirtschaft? Die Ausstellung „LandLiebe“, kuratiert von Damian Jurt, geht diesen Fragen nach. Über zwanzig Künstlerinnen und Künstler geben oft unerwartete und mitunter auch brisante Antworten. Die nachfolgend erwähnten Beispiele zeigen, wie breit gefächert die Wahl ist, mit der die Ausstellung Brücken schlägt zwischen Gegenwartskunst und aktuellen ökologischen Debatten.
In Mirko Baselgias Installation „Endozoochory Project“ wachsen unter gleissend hellem Licht verschiedene Gemüse – nicht auf Humus, sondern angeschlossen an Leitungen, die ihnen Nährstoffe zuführen: eine Hors-Sol-Kultur, künstliche Natur, präsentiert in wissenschaftlicher Laborsituation. Radikal stellt Baselgia unser Verhältnis zu Natur und Lebensmittelproduktion in Frage und zerstört romantische Idealvorstellungen, die wir vom Gang über den Wochenmarkt nach Hause mitnehmen. Vielleicht kann Kunst wirklich Landwirtschaft sein: Am 2. Januar, wenn die Ausstellung in Chur endet, wird Baselgias Museums-Gemüsegarten abgeerntet sein.
Oder: Kunst kann Landwirtschaft sein und damit Land verändern. Georg Blunier war Künstler und ist heute Biobauer. Zusammen mit Claudia Hanimann bewirtschaftet er den Biohof Dusch in Paspels. Dass sich der biologische Betrieb eines Hofes auf die Landschaftsgestaltung auswirken kann, liegt auf der Hand. Landwirtschaft wird zur Landschaftskunst – in viel tiefgreifenderem Sinn als Land Art das tat. Folgerichtig baut das Museum einen Besuch des Hofes Dusch von Blunier/Hanimann ins Programm ein.
„Schreckgespenst aller Touristiker“
Olivier Gemperle, Grafiker und Fotograf, verändert nicht selber die Landschaft, dokumentiert aber mit Fotos aus dem Calancatal, wie ein Rückgang der Landwirtschaft die Landschaft verändert. Bitterbös ist, was der Tiroler Fotograf Lois Hechenblaikner, das „Schreckgespenst aller Touristiker“ (Fernsehen SRF), zeigt. Er legt in der Serie „Hinter den Bergen“ schonungslos offen, wie touristische Nutzung in die einst von der Agrarkultur geprägte Landschaft eingreift. Schwarzweisse Fotos, in denen der Agronom Armin Kniely in den 1940er und 1950er Jahren die bäuerlich geprägte Landschaft festhielt, stehen Hechenblaikners eigene Farbfotos formal vergleichbarer, inhaltlich aber kontrastierender Situationen gegenüber. Hier Buben vor einem Vogelkäfig, dort Buben vor einer Playstation, hier Heuschochen, da Golfsäcke, hier ein Holzzaun, da ein Haufen kaputter Skier, hier vom Sturm gefällt Bäume, da Hunderte von Cars auf alpinem Festgelände, hier Jaucheschlauch, da Schneekanone.
„LandLiebe“ erörtert das Thema „Kunst und Landwirtschaft“ mit Fokus auf Gegenwartskunst und verfolgt dabei verschiedene Stränge. Das geschieht offen und ohne Dogma und Belehrung. Wir stossen zum Beispiel auf Gross-Fotografien der Finnin Ilkka Halso mit Science-Fiction-Visionen einer hoch technisierten Landschaft oder auf die skulptural präsentierten, archaische Urtümlichkeit ausstrahlenden Heutücher von Beatrix Sitter-Liver. Asta Grötings Wandskulptur ist ambivalent: Der Abguss eines grossen Stücks Ackerscholle ist 18 Karat vergoldet und verwandelt die Erde in eine pathetisch strahlende Sonne, lässt sich aber zugleich lesen als ein warnendes Mahnmal vor Missbrauch und trügerischer Heroisierung.
Als Kontrast baut Kurator Damien Jurt auch Traditionelles aus der Churer Sammlung ein – zwei Werke Giovanni Giacomettis, einen Kirchner-Holzschnitt, ein wunderbares kleines Aquarell Amiets und, aus der Sammlung des Volkskundlers Paul Hugger, eine ganze Reihe von Fotografien Emil Brunners, der in den 1940er Jahren arme, bereits von der Härte des Lebens gezeichnete Bündner Bergkinder fotografierte und leise den Mythos einer heilen Bauernwelt anritzte. Idyllisch mag es werden in den Scherenschnitten von Johann Jakob Hauswirth (1809–1871). Doch der Schein trügt: Der zwischen Saanental und Pays-d’Enhaut pendelnde Tagelöhner Hauswirth lebte in bitterer Armut. Mit seinen heute kostbaren Kleinkunstwerken bezahlte er den Bauern jeweils sein Heustall-Nachtlager.
Kritische Liebe zum eigenen Land
Die Landwirtschaft prägt die Landschaft, mitunter aber auch die Stadt. Der Bündner Jacques Antonius von Planta kam mit Baumwoll-Plantagen in Ägypten zu riesigem Vermögen und baute in den 1870er Jahren in Chur seine prunkvolle Villa, heute Sitz des Bündner Kunstmuseums. Denise Bertschi widmet sich in ihrer Videoinstallation – Paradebeispiel der Interpretation eines höchst komplexen kulturellen Sachverhaltes – dem vielschichtigen Beziehungsnetz von Selbstdarstellung, Kolonialisierung, nach Ägypten ausgelagerter Landwirtschaft, Wirtschaft, Politik und schliesslich Kunst und Architektur.
Vollends politisch wird es bei Roland Roos. Sein Projekt „Peter – gemeinsam voraus!“ hat mit Landwirtschaft kaum mehr etwas zu tun, wohl aber mit der kritischen Liebe des Künstlers zu seinem Land. Den für seine subtilen, oft im Geheimen durchgeführten Aktionen im öffentlichen Raum bekannte Künstler stachelten die Lockerungsversuche des Waffenexports durch den Bundesrat (2018) zu intrigierenden Taten an: Er fand die 2014 erfolgte Umbenennung der Ostspitze des Monte-Rosa-Massivs in Dunantspitze vor dem Hintergrund dieses inhumanen, später aber vom Parlament korrigierten Fehlentscheides unstatthaft. Er stieg kurzerhand auf den 4632 m hohen Gipfel, entfernte die entsprechende Widmungsplatte mit dem Namen des Rot-Kreuz-Gründers und platzierte sie in einer Ausstellungsvitrine im Haus Konstruktiv in Zürich.
Für die Churer Ausstellung schlägt er in einem Büchlein den Bogen zu einer fiktiven Spätphase der Heidi-und-Peter-Geschichte (Roos selber als moderner Geissenpeter) und schildert ausführlich die kulturpolitischen Verwerfungen, welche seine Aktion nach sich zog. Wie immer in seinen Arbeiten legt Roland Roos auch hier komplexe politisch-kulturelle Zusammenhänge bloss – ernst und zugleich erfrischend undoktrinär und nicht ohne Selbstironie.
Auch das ist LandLiebe.
Bündner Kunstmuseum Chur, bis 2. Januar 2022, Publikation Fr.20.-