Selbst seine Flucht am Sonntagabend war eine Schmach. Er flog nach Tadschikistan. Dort allerdings wollte man ihn nicht. So flog er denn weiter nach Oman und in die Vereinigtn Arabischen Emirate. Bald wird er wohl in den USA auftauchen.
Wer war Ashraf Ghani, der sein Volk im Stich liess? Er ging, ohne es anzukündigen. Plötzlich war er nicht mehr da. Hat er die Afghanen und Afghaninnen verraten? Hätte er nicht bis zum bitteren Ende die Stellung halten sollen?
Feind Nummer eins
Er ging, um ein Blutbad zu vermeiden, sagte er. Auch während der letzten Tage vor dem Untergang hätte er die Armee noch einmal zu einem Gegenangriff befehligen können. Dann wäre es zur befürchteten Schlacht um Kabul gekommen. Er tat es nicht. Die Lage war allzu aussichtslos. Offenbar empfing er im Präsidentenpalast noch hohe Vertreter der Taliban. Doch für Ghani war kein Platz mehr. Und so zog er die Konsequenzen.
Für die Taliban war er der Feind Nummer eins. Wir wissen nicht, wie die Radikalislamisten mit ihm umgegangen wären, wenn er geblieben wäre. Früher jedenfalls forderten sie seinen Tod.
Glaube an eine bessere Zukunft
Er hatte an der Universität Kabul und an der amerikanischen Universität in Beirut Politologie studiert. An der Columbia University in New York promovierte er in Kulturanthropologie. Später lehrte er an verschiedenen Universitäten Politikwissenschaft. Dann ging er zur Weltbank.
Als im Jahr 2001 die USA nach 9/11 in Afghanistan einmarschierten, glaubten viele an eine bessere Zukunft des Landes. Das mit viel Geld gepolsterte amerikanische Engagement liess bei vielen Hoffnung aufkeimen. Auch Ghani glaubte an eine bessere Zukunft und kehrte nach 24-jährigem Aufenthalt im Ausland in seine Heimat zurück, zunächst als UN-Sonderbeauftragter mit starker Unterstützung Washingtons. Er wollte Afghanistan zu einem modernen asiatischen Wirtschaftszentrum formen. Später wurde er sogar als Kandidat für das Amt des Uno-Generalsekretärs gehandelt.
Tiefe Feindschaft
Seine Polit-Karriere ist gepflastert mit Misserfolgen. 2009 kandidierte er erstmals bei den Präsidentschaftswahlen. Er erhielt 3 Prozent der Stimmen.
Zu seinen Hauptgegnern gehört seit Jahren Abdullah Abdullah, ein gewiefter Fuchs. Die tiefe Feindschaft der beiden hat viel zur Instabilität Afghanistans beigetragen. Ghani ist Paschtune, Abdullah hat enge Beziehungen zu den Tadschiken.
Der «ausländische Präsident»
Bei den Präsidentschaftswahlen 2014 gewann Ghani in der Stichwahl angeblich mit 56 Prozent der Stimmen. Viele unabhängige Beobachter zweifelten dieses Ergebnis an. Abdullah, der auf 45 Prozent kam, sprach von Wahlfälschung. Er begnügte sich dann mit dem Amt des Regierungschefs.
Während der sowjetischen Invasion in Afghanistan in den Jahren 1979 bis 1989 hatte sich Ghani in den USA aufgehalten. Seine Gegner warfen ihm stets vor, er habe seinem Volk den Rücken gekehrt. Man nannte ihn den «ausländischen Präsidenten». Dass er auch noch eine Libanesin zur Frau hat, festigte bei vielen diesen Eindruck.
Zwei Präsidenten
Auch die Wahlen 2019 endeten in Turbulenzen. Die Bekanntgabe des Wahlergebnisses wurde verschoben. Schliesslich wurde Ghani mit 50,64 Prozent der Stimmen zum Sieger erklärt.
Abdullah anerkannte das Resultat nicht und wollte in Nordafghanistan eine Gegenregierung bilden. Während sich die beiden bekriegten, festigten die Taliban ihre Stellungen und rückten vor. Im März 2020 liessen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsidenten vereidigen.
Vertrauensverhältnis mit den Taliban?
Auf massiven Druck der Amerikaner hin einigten sich die beiden im Mai letzten Jahres auf eine Machtteilung. Ghani blieb Präsident und Abdullah wurde Vorsitzender des «Hohen Rates für Nationale Versöhnung». Als solcher führte Abdullah die Verhandlungen mit den Taliban in der katarischen Hauptstadt Doha. Das erlaubte ihm, ein Vertrauensverhältnis mit den Radikalislamisten aufzubauen – ein Verhältnis, von dem er jetzt profitieren könnte.
Hat er, der gewiefte Taktiker, sich den Taliban angebiedert und so seine Zukunft gesichert? Jedenfalls blieb er in Kabul und fürchtete sich nicht vor den Siegern. Vielleicht brauchen die Taliban ja Leute wie Abdullah. Er war auch der Erste, der am Sonntag via Facebook bekanntgab, dass Ghani das Land verlassen hatte. Endlich war er seinen Gegenspieler los.
«Eigentlich ist Afghanistan unregierbar»
Afghanistan zu regieren – das wünscht man seinem ärgsten Feind nicht: Korruption, Stammesfehden, ethnische und religiöse Konflikte, der Norden gegen den Süden. Neben den dominierenden Paschtunen gibt es Tadschiken, Hazara, Usbeken, Sadat, Turkmenen, Belutschen und andere.
Traditionen stehen gegen alles Moderne. Fast auf jedem Hügel herrscht ein anderer Warlord. Bestechlichkeit gehört zur Tagesordnung, ausländische Mächte mischen mit, Pakistan spielt ein Doppelspiel, noch immer sind einige Terrorzellen vorhanden. Schon vor dreissig Jahren sagte der damalige Präsident Mohammed Najibullah in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen: «Eigentlich ist Afghanistan unregierbar.» Eigentlich.
Milliarden verschwanden
In Kabul sagt man, die Afghanen seien «sehr flexibel». Flexibel – das heisst, sie wechseln schnell ihre Meinung und ihre Haltung, vor allem gegen Geld. Die Taliban nützten dies aus und verführten Tausende vom Westen ausgebildete Soldaten dazu, die Seite zu wechseln.
Ghani war kein guter Präsident. Es gelang ihm nicht, der korrupten Oberschicht des Landes Paroli zu bieten. Milliarden von Dollar, meist Hilfsgelder oder Gelder für die Armee, verschwanden in den Taschen der ohnehin schon Reichen.
«Allzu intellektuell»
Da er hilflos auf dem Präsidentenstuhl sass, wurde er immer mehr zur Marionette der USA. Ghani, auch verbraucht durch den Abnützungskampf mit Abdullah, entglitten mehr und mehr die Zügel. Viele bezeichneten ihn als «allzu intellektuell» für das Präsidentenamt. Vielleicht haben sie recht, seine Welt war die Welt der Akademiker. Er war weder charismatisch noch durchsetzungsfähig.
War auch Ghani korrupt? Nikita Ishenko, ein Sprecher der russischen Botschaft in Kabul, erklärte am Montag gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Sputnik, Ghani sei mit vier Autos geflohen, die vollgepackt mit «Cash» gewesen seien. Das Geld sei in Helikopter verladen worden, doch einiges sei auf die Piste zurückgefallen. Solche Geschichten wirken abenteuerlich und wenig glaubhaft.
Trump liess ihn fallen
Am Schluss igelte sich der Präsident ein und umgab sich nur noch mit seinen Getreuen. «Er hat nicht mehr zugehört», hiess es. Er hatte den Amerikanern vertraut, doch der amerikanische Präsident Trump war es, der ihm schliesslich den Dolch in den Rücken rammte.
Trump brauchte vor den Wahlen einen aussenpolitischen Erfolg. Im Oktober letzten Jahres kündigte er an, dass er die damals 5000 amerikanischen Soldaten aus Afghanistan zurückziehen werde. Damit servierte er den Taliban den Sieg. Verhandlungen bestehen darin, dass beide Seiten Trümpfe in der Hand haben und sie gegeneinander ausspielen. Mit der Rückzugsankündigung gaben die USA ihren wichtigsten Trumpf preis.
Das Doha-Desaster
Jetzt zogen die Islamisten die Amerikaner über den Tisch. Sie mussten nun in Doha keine echten Konzessionen mehr machen.
Für Ghani waren die Doha-Verhandlungen ein Desaster. Er und seine Regierung durften an den Gesprächen gar nicht teilnehmen. So wollten es die Taliban, und Trump knickte ein. Was für eine Demütigung! Da wird über die Zukunft des Landes gefeilscht und die Hauptbetroffenen dürfen gar nicht am Verhandlungstisch sitzen. So etwas konnte nur Trump in den Sinn kommen.
Freilassung von Mördern und Fanatikern
Schlimmer noch: Trump verpflichtete Ghani, der Taliban-Forderung nachzukommen und Tausende Taliban-Kämpfer freizulassen. Unter ihnen befanden sich eingefleischte Kriminelle, hartgesottene Mörder und Scharia-Fanatiker, die Frauen verprügeln und Männern die Köpfe abschlugen. Einige von ihnen befinden sich jetzt an den Schalthebeln der Macht, wenn auch vor allem auf lokaler Ebene. Ghani wehrte sich gegen ihre Freilassung – ohne Erfolg.
Wenn heute Präsident Biden für das jetzige Chaos verantwortlich gemacht wird, sollte man nicht vergessen, dass Trump das ganze Schlamassel angerichtet hat. Biden vollstreckte nur, was Trump wollte. Das ist die eine Seite. Doch es gibt eine andere. Dass die Amerikaner ohne Plan die Afghanen den Taliban quasi «zum Frass vorwarfen», ist einer Weltmacht, die gerne moralisierend auftritt, nicht würdig. Die Devise lautet jetzt: «Macht euren Dreck alleene.» Ghani, der Präsident, musste alles über sich ergehen lassen.
«Islamisches Kalifat»
Es wäre falsch, die sieben Jahre, die Ghani zu regieren versuchte, als totalen Misserfolg zu bezeichnen. Vieles hat sich geändert in den letzten Jahren. Auch Mädchen gehen zur Schule, auch Frauen studieren und übernahmen wichtige Posten. Ghani hat das Land, und sogar die Justiz, zaghaft modernisiert. Echte demokratische Strukturen wurden da und dort aufgebaut. Der Präsident hat Schlüsselpositionen mit modern eingestellten, gebildeten jungen Menschen besetzt.
Es ist zu befürchten, dass jetzt vieles rückgängig gemacht wird. Es gibt wenig Hinweise dafür, dass man den gegenwärtigen Schalmeien der Taliban trauen sollte. Die Gefahr, dass die aus der Zeit gefallenen Steinzeit-Islamisten wieder das Sagen haben, ist gross. Von Demokratie und Gleichberechtigung hielten die Taliban bisher gar nichts. Die Taliban versprachen ihren Anhängern ein «islamisches Kalifat». In einem Kalifat dürfen Frauen nicht ohne männliche Begleitung das Haus verlassen, Männer müssen Bärte tragen.
Ghanis Ende fand nicht am vergangenen Sonntag statt. Den Todesstoss erhielt der jetzt 72-Jährige im Oktober letzten Jahres, als Trump den Abzug der amerikanischen Truppen ankündigte. Seither war Ghani ein isolierter, verzweifelter, machtloser Präsident, der nur darauf wartete, bis die Taliban endgültig die Macht übernahmen.
Am vergangen Sonntag standen sie vor den Toren von Kabul.
Siehe auch: Journal21 vom 10. Oktober 2020: «Kabul wir kommen».