15 Juristen und Juristinnen des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag (ICJ) befassten sich seit Ende 2022 mit dem Auftrag der Uno-Generalversammlung zur Prüfung der Frage, ob die israelische Besatzung palästinensischer Gebiete gegen internationales Recht verstosse. Am Freitag befanden sie mit 14 zu 1: die israelische Siedlungspolitik ist illegal.
Dass das Urteil zu massiven Protesten bei der Regierung von Premier Netanyahu führen musste, war zu erwarten (das Gericht habe einen «Lügen-Entscheid» getroffen, sagte er). Bezalel Smotrich, Finanzminister, verstieg sich gar zum Kommentar, das Richter-Gremium bestehe aus «islamistischen Extremisten» (Tatsache ist: 2 von 15 kommen aus Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, aber niemandem ist es bisher in den Sinn gekommen, ihnen Islamisten-Sympathien zu unterstellen). Und die «Jerusalem Post», tendenziell (aber nicht immer) regierungsfreundlich, publizierte einen Kommentar des Inhalts, dass alles, was Israel in den Palästinensergebieten seit 1967 getan habe, Selbstverteidigung gegen einen Aggressor sei. Dafür, zum Schutz der eigenen Bevölkerung, und nur dafür, habe Israel die Siedlungen im Westjordanland gebaut.
In einem anderen Beitrag der «Jerusalem Post» wurde die Befürchtung ausgedrückt, das Haager Urteil könne einerseits wirtschaftliche Folgen zeitigen (Boykott von Waren, die in den landwirtschaftlichen Betrieben der Siedlungen hergestellt werden), anderseits aber auch finanzielle (Rückzug von Investitionen). Und «Haaretz» warf die Frage auf, ob und allenfalls wie die internationale Gemeinschaft politisch reagieren werde – schliesslich sind praktisch alle Länder, weltweit, Mitglied der Uno und somit verpflichtet, Urteile des ICJ zu befolgen.
Zwei Rechtssysteme in den besetzten Gebieten
Das Gremium in Den Haag hat allerdings keine Handlungsanweisungen an die internationale Gemeinschaft erlassen. Es bleibt somit der Regierung jedes einzelnen Staats (gilt auch für die Schweiz) überlassen, ob sie ihre Politik gegenüber Israel ändern will. «Bern» wird wohl nichts weiter tun, als das, was es schon fast immer getan hat: die Lage beobachten … Auch auf Regierungen wie die USA, Deutschland oder Grossbritannien wird das Urteil, aller Voraussicht nach, ohne Echo bleiben. Aber all jenen, die schon seit Jahren Israel als kolonialistisches Gebilde oder als Apartheid-Staat bezeichnen, dient der Richterspruch als zusätzliches Argument.
Im Haager Urteil gibt es einleuchtende Passagen – und solche, die schlicht realitätsfremd sind. Einleuchtend zum Beispiel, dass Israel in den besetzten Gebieten zwei Rechtssysteme etabliert hat, eines für die ca. 700’000 Siedler, ein anderes für die im gleichen Gebiet lebenden rund drei Millionen Palästinenser, und dass das zu krassen Ungerechtigkeiten geführt hat. Für die Siedler gilt israelisches Zivilrecht, für die Palästinenser Militärrecht, das die Möglichkeiten vor Gericht drastisch einschränkt (und das in der Praxis dazu geführt hat, dass 99 Prozent der Beschuldigten auch verurteilt wurden) und Ursache dafür ist, dass zehntausende Palästinenser in Administrativhaft genommen und oft für Jahre ohne Gerichtsprozess festgehalten wurden.
Die Resolution wird am Veto der USA scheitern
Einleuchtend auch ist der richterliche Befund, dass Israel in der Praxis von einem Besatzungsregime (Besatzung ist ein zeitlich befristeter Zustand) zu einem Zustand der Annexion übergegangen ist.
Realitätsfremd ist dagegen die Forderung des Gerichts, Israel müsse nicht nur den Zustrom weiterer Siedlerfamilien stoppen, sondern die bereits in der Region lebenden 700’000 evakuieren und die palästinensische Bevölkerung materiell entschädigen. Diesen Punkt, respektive diese Forderung hätte das Gremium wohl besser weggelassen und sich darauf beschränkt, das anzuprangern und zu verurteilen, was tatsächlich geschehen ist.
Was geschieht nun weiter? Als nächstes muss sich die Uno-Generalversammlung mit dem Richterspruch befassen. Da wird sich wohl eine breite Mehrheit hinter das Urteil stellen und den Sicherheitsrat beauftragen, eine Resolution zu erlassen. Leicht vorherzusagen, was dann passiert: Die Resolution wird am Veto der USA scheitern. Und Israels Regierung wird das Urteil als Beweis dafür werten, dass sämtliche Uno-Instanzen, vom Haager Gericht bis zum Flüchtlingshilfswerk UNWRA, parteiisch seien – oder sogar, wie Minister Smotrich sagte, beeinflusst von islamistischen Extremisten.