Der Chefredaktor der wichtigsten Oppositionszeitung der Türkei ist eben verhaftet worden. Dasselbe Schicksal beschreibt sein Vorgänger in einem berührenden, ebenso politischen wie persönlichen Gefängnisjournal.
Journalist zu sein in der Türkei war schon immer risikoreich. Seit Erdoğan regiert, gilt das mehr denn je. In der Folge der jüngsten Machtübernahme seiner AKP am 1. November 2015 und dem gescheiterten Putschversuch vom vergangenen Sommer rollt eine nicht gesehene Repressionswelle über alle Institutionen der türkischen Zivilgesellschaft hinweg, welche die Medien mit noch verstärkter Wucht trifft.
„Verbrechen zur Destabilisering des Staates“
So auch Murat Subancu, den Chefdedaktor der in Istanbul ansässigen, unabhängigen Tageszeitung „Cumhuriet“, welcher am vergangenen Wochenende zusammen mit Redaktionskollegen verhaftet worden ist, und zwar wegen „Verbrechen zur Destabilisierung des Staates“.
Subancus Vorgänger, Can Dünar, war am 26. November 2015 verhaftet worden, mit ebenso breiten und unspezifischen Anklagen wegen „Spionage, Geheimnisverrat und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“. Kernpunkt waren damals Berichte in „Cumhuriet“ über illegale, offiziell von der Regierung Erdoğan immer dementierte Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an islamische Extremisten in Syrien.
Wiedereinführung der Todesstrafe?
Nach drei Monaten Untersuchungshaft wurden die beiden auf Intervention des Verfassungsgerichts wieder entlassen. Ende März 2016 begann der Hauptprozess, in dem neue Anklagen wegen „Beleidigung des Staatsoberhauptes“ beigefügt wurden. Bevor die Verurteilung rechtskräftig geworden war, erfolgte Putsch und Repressionswelle; seither lebt Dünar ausserhalb der Türkei, irgendwo in Europa.
Dies mit gutem Grund. Mehrere der Verfassungsrichter, welche seine vorläufige Entlassung erwirkt hatten, sind seither von Erdoğan entlassen worden. Zudem hat dieser die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht gestellt.
Die Frau, als Familiengeisel festgehalten
Nachdem Dünar 2015 einem Attentatsversuch vor einem Istanbuler Gerichtsgebäude nur durch eine mutige Intervention seiner Frau entgangen war, muss er nun bei einer Rückkehr in sein Heimatland auch mit seiner staatlich sanktionierten Ermordung rechnen. Seine Frau wurde die Ausreise aus der Türkei verwehrt, ihr Pass beschlagnahmt; de facto wird sie von den türkischen Behörden als Familiengeisel gehalten. Sein Sohn studiert in London.
Seine „Aufzeichnungen aus dem Gefängnis“ sind zunächst ein politisches Buch. Über die Türkei und ihren Rückfall in einen islamischen Untertanenstaat vorkemalistischer Prägung. Aber auch über die Absurdidät aller totalitären Ordnungssysteme, welche freie Meinungsäusserung, ja Meinungsfreiheit generell durch Einsperren und Isolation verhindern wollen. Dündar zeigt, wie ihm das plötzliche Abgeschnittensein von allen Verbindungen nach aussen auch dazu verhalf, über sich und über Grundwerte nachzudenken. Bemerkenswert etwa, was er über Patrioten schreibt, jener Gemeinschaft von Menschen welche denselben Prinzipien verpflichtet sind. „Wo die nicht herrschen, kann unser ‘Vaterland’ nicht sein.“
Schalldichte Trennwand
Kafkaesk seine Beschreibung der Paketverteilung an Gefangene, welche sie selber aufmachen dürfen, aber nicht in die Zelle mitnehmen. Ebenso die Präsenz seiner als freier Journalist geschriebenen Bücher in der Gefängisbibliothek, welche er als der eingesperrte Autor ausleihen muss, da das Mitbringen eigener Bücher ins Gefängnis untersagt ist.
Berühren wird jeden Leser seine stummen Dialoge mit seinen Liebsten. Stumm, weil er in der Gefängniszelle sitzt, aber auch weil die gläserne, schalldichte Trennwand bei Besuchen lediglich Augenkontakt zulässt. Der Brief von Dündars Sohn Ege, voll Stolz auf seinen mutigen Vater und die Erwiderung zu dessen 20. Geburtstag rühren buchstäblich zu Tränen. An emotionaler Kraft und Tiefe durchaus mit Havels Briefen an Olga aus einem damals kommunistischen Gefängnis in Prag zu vergleichen.
Die Türkei, aus allen Organisationen ausgeschlossen
Übersetzt auf die Ebene der hohen Politik zeigt das Buch eindrücklich, dass ein normales zwischenstaatliches Verhältnis zur Türkei, diesem mitlerweile zur „islamistischen Diktatur“ (Dündar) gewordenen Land im Rahmen europäischer und westlicher Organisationen unmöglich wird. Falls Erdoğan nicht fällt – in Dündars Buch sind interessanterweise Beispiele zu finden, dass auch unter den „kleinen Leuten“ wie Gefängniswärtern das Bewusstsein von Recht und Unrecht noch durchaus besteht – wird Ankara auf mittlere Frist aus allen solchen Organisationen ausgeschlossen werden müssen.
Lieber eine aufwendige, teure und unschöne Grenzsicherung zwischen Griechenland und der Türkei in der Ägäis, dafür keinen Flüchtlingsdeal zwischen Ankara und Brüssel und keinen türkischen Islam-Absolutismus im Europarat in Strassburg. Lieber den Verlust von Militärbasen und dem traditionellen sicherheitspolitischen Pfeiler am Bosporus, als erdoganhörige Militärs im Hauptquartier der Nato, der wichtigsten physischen Verteidigungsorganisation im Kampf gegen islamischen Extremismus und Terrorismus weltweit. Die andauernden Säuberungen in der Türkei richten sich ja auch und gerade gegen das Militärestablishment, also die Offiziere welche in Brüssel, den USA und in anderen westlichen Staaten Dienst geleistet und gelebt haben. Jenen, welche nun von Erdoğans Gnaden nachrücken zu trauen, dürfte schwierig werden.
Can Dündar, Lebenslang für die Wahrheit, Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, Hoffmann und Campe, 2016