Edward J. Snowden, der die umfassenden Überwachungsprogramme des US-Geheimdienstes NSA aufgedeckt hat, ist je nach Optik entweder ein Patriot oder ein Landesverräter. Gefährden die Enthüllungen des 29-Jährigen tatsächlich Amerikas Sicherheit oder bestätigen sie nur Bekanntes?
Der blinde Fleck
Der frühere Vizepräsident Dick Cheney ist nicht dafür bekannt, Leute mit Samthandschuhen anzufassen. Unter George W. Bush befürwortete er nach 9/11 die Folter von Terrorverdächtigen und auf einer Fasanenjagd traf er 2006 im Eifer einen 78-Jährigen mit einer Ladung Schrot.
Kein Wunder, ist Edward Snowden für Cheney „ein Verbrecher und Verräter“. Der 72-Jährige, im Amt für seine Geheimniskrämerei und „geheim gehaltenen Standorte“ bekannt, zeigte sich in einem Fernsehinterview mit „Fox News“ überzeugt, der in Hongkong untergetauchte Informant habe Amerikas Sicherheitsinteressen „enormen Schaden“ zugefügt.
Doch damit nicht genug. Dick Cheney mutmasste, Snowden könnte für China spioniert haben. Es sei verdächtig, dass sich der 29-Jährige ausgerechnet nach Hongkong abgesetzt habe: „Das ist kein Ort, wo einer normalerweise hingeht, wenn er an Freiheit, freier Meinungsäusserung und so weiter interessiert ist.“ Der Betroffene selbst hatte im Internet verlauten lassen, er interessiere sich für chinesische Sprache und Kultur, und gemutmasst, eine Versetzung in die Volksrepublik könnte seiner Karriere förderlich sein.
Gezielte Indiskretionen
Wie so viele Regierungsmitglieder oder Anhänger Barack Obamas übersieht der frühere Vizepräsident geflissentlich, dass noch jede Exekutive in Washington DC, wenn sie es für opportun hielt, den Medien Geheiminformationen hat zukommen lassen – ein Umstand, den Reuters-Medienkorrespondent Jack Shafer in einem Bericht anschaulich thematisiert.
Shafer bezichtigt jene Vertreter des Establishments, die Edward Snowdon lauthals verdammen, der Heuchelei und argumentiert, der Informant praktiziere lediglich im Grossen, was die Vertreter nationaler Sicherheitsinteressen täglich im Kleinen täten, „um politische Debatten zu managen, zu manipulieren und zu beeinflussen“. Staatsgeheimnisse blieben in Washington DC jeweils nur so lange sakrosankt, bis Regierungsvertreter es politisch für nützlich hielten, sie entweder zu deklassifizieren oder gezielt den Medien zuzuspielen. Wie das die Verwaltung unter George W. Bush vor dem Krieg im Irak wiederholt tat, um Kongress und Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer Militäroperation zu überzeugen.
Jack Shafer zufolge beklagte sich Dick Cheney 2007 einst bei George W. Bush selbst über ein Nachrichtenleck, von dem sich aber später herausstellte, dass es der Präsident höchstpersönlich angeordnet hatte. Mitarbeiter Barack Obamas indes liessen angeblich 2008 kurz nach der Wahl dem Journalisten Bob Woodward Einzelheiten eines geheimen Briefings zukommen, um den Präsidenten in vorteilhaftem Licht zu präsentieren - eine Taktik, derer die Republikaner das Weisse Haus auch 2011 nach der Ermordung Osama bin Ladens beschuldigt haben. Der Präsident, so der Vorwurf, habe mit gezielten Enthüllungen über „Operation Neptune’s Spear“ in Pakistan seine Chancen auf eine Wiederwahl erhöhen wollen.
Enthüllung und Gegen-Enthüllung
Das Fazit des reputierten Reuters-Korrespondenten: „Die Bereitschaft der Regierung, Informanten zu bestrafen, ist umgekehrt proportional zu Rang und Status des Informanten, was wenig Gutes verheisst für jemanden wie Edward Snowden, dem es an beidem mangelt.“ Denn längst nicht alle Informanten sind so prominent wie seinerzeit Henry Kissinger, der unter Richard M. Nixon Sicherheitsberater des Präsidenten und Aussenminister war.
Kissinger, vom dem es in Washington DC hiess, er „lecke wie ein Sieb“, wollte in den Medien aber nur selten als Quelle von gezielten Indiskretionen genannt werden. Was einen frustrierten Reporter dazu veranlasste, einmal wie folgt über ihn zu schreiben: „Ein hochrangiger Beamter des US-Aussenministeriums und Mrs. Kissinger wurden dabei beobachtet, wie sie gemeinsam ein Hotelzimmer betraten.“
Gemäss einem bewährten Ritual in Washington DC pflegen Regierungen unvorteilhafte Enthüllungen umgehend mit Gegen-Enthüllungen zu entschärfen. Wobei sich der Normalbürger fragt, weshalb die neuen Informationen nicht schon früher hätten bekannt werden können. So hat NSA-Chef General Keith Alexander bei einer Anhörung im Kongress inzwischen mitgeteilt, dass die Überwachungsprogramme seines Dienstes seit 9/11 in über 50 Fällen mögliche Terroranschläge vereitelt hätten, unter ihnen mindestens zehn Attacken auf amerikanischem Territorium. Dabei sind dem General zufolge 90 Prozent der geplanten Attacken durch Überwachung des Internetverkehrs abgewehrt worden
Ahnungslose Medien
Der stellvertretenden FBI-Direktor Sean Joyce nannte zudem Beispiele, laut denen die Bundespolizei noch rechtzeitig von geplanten Anschlägen erfuhr. Zum einen im Fall eines Mannes aus Kansas City, der mit einem verdächtigen „Extremisten“ im Jemen in Verbindung stand und angeblich plante, die Börse in New York in die Luft zu sprengen. Zum anderen im Fall eines Verdächtigen aus San Diego, der einer Terroristengruppe in Somalia Geld schicken wollte und dem das FBI dank der Überwachung seines Telefons auf die Schliche kam.
Inzwischen haben zuständige Stellen ausserdem kommuniziert, dass die NSA Daten, die bei der Telefonüberwachung gesammelt werden, jeweils nach fünf Jahren lösche und dass im vergangenen Jahr weniger als 300 verdächtige Telefonnummern mit der Datenbank des Geheimdienstes abgeglichen worden seien – nach richterlicher Genehmigung. Eine unabhängige Bestätigung dafür gibt es nicht.
Entsprechend sind nicht alle Volksvertreter in Washington DC von der relativen Harmlosigkeit der NSA-Überwachungsprogramme überzeugt. Die demokratische Abgeordnete Loretta Sanchez aus Kalifornien zum Beispiel hält die bisherigen Enthüllungen lediglich für „die Spitze des Eisbergs“. Sie habe, sagte Sanchez, bei einem Briefing im Repräsentantenhaus wesentlich mehr erfahren, als die Medien bisher berichtet hätten.
Terror und Diabetes
Dieser Einschätzung stimmt Glenn Greenwald vorbehaltlos zu, jener Mitarbeiter des „Guardian“ und Jurist, dem gegenüber Edward Snowden ausgepackt hat. In der Tat glaubt man inzwischen auch zu wissen, dass die NSA und Grossbritanniens G.C.H. Q (Government Communications Headquarters) vor vier Jahren Telefonate und E-Mails von Teilnehmern eines Treffens der G20 in London überwacht haben.
Einen eigenwilligen Zugang zum Thema Überwachungsstaat demonstriert Conor Friedersdorf auf der Website des Monatsmagazins „The Atlantic“. Es sei irrational, argumentiert er, auf so viele Bürgerfreiheiten zu verzichten, um den Terror zu bekämpfen – vor allem angesichts anderer Bedrohungen, mit denen sich die USA heute konfrontiert sähen. Was aber wiederum nicht heisse, dass der Terror nicht entschieden zu bekämpfen sei.
2001 zum Beispiel, schreibt Friedersdorf, seien in Amerika rund 3000 Menschen bei Terroranschlägen getötet worden. Im selben Jahr aber seien 71‘372 Amerikaner an Diabetes gestorben, 29‘573 Menschen durch Schusswaffen und 13‘290 Personen durch alkoholisierte Autofahrer getötet worden.
Der Vorteil des Blitzes
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 sind insgesamt 364‘483 Amerikaner Opfer von Schusswaffen geworden, ohne dass zur Verminderung dieses Risikos auch nur entfernt vergleichbare Mittel aufgewendet worden wären wie im Kampf gegen den Terror. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, in den USA erschossen zu werden, über 100-mal grösser ist, als bei einem Terroranschlag ums Leben zu kommen.
Jedes Jahr, so der „Atlantic“-Mitarbeiter, würden in Amerika 3000 Menschen, gleich viele wie am 11. September 2001, an Lebensmittelvergiftungen sterben, ohne dass deswegen die Bürgerfreiheiten ansatzweise eingeschränkt worden wären: „Regierungsvertreter, die Mehrheit der Medien und die meisten Amerikaner sprechen über Terrorismus, als ob ihnen dieser Kontext gänzlich fremd sei – als ob sich Terror von allen anderen Bedrohungen grundsätzlich und nachhaltig unterscheide. Und er zitiert eine andere Quelle, wonach es in Amerika in den letzten fünf Jahren wahrscheinlicher war, vom Blitz getroffen als von einem Terroristen getötet zu werden. Die Chancen dafür standen 1:5,5 Millionen.
Wie jeder andere Amerikaner fürchte auch er sich vor Terror, räumt Friedersdorf ein. Trotzdem sei es an der Zeit, endlich mit dem Verstand statt nur mit dem Bauch auf diese Art der Bedrohung zu reagieren: „Verfechter von Bürgerfreiheiten fordern nicht, dass wir naiv oder unvernünftig Mut zeigen, wenn sie postulieren, die Bedrohung durch den Terrorismus sei nicht gross genug, um das massive Ausspionieren unschuldiger Amerikaner sowie die Schaffung ständiger Datenbanken zu rechtfertigen, von denen anzunehmen ist, dass sie irgendwann missbraucht werden.“
Quellen: „The Guardian“; „The Washington Post“; „The New York Times“; “The Los Angeles Times”; „The New Yorker“; „The Atlantic”; “The Daily Beast”, Reuters.