Im Irak ist zuerst Mosul dem IS entrissen worden, nach Kämpfen, die
über sechs Monate andauerten. Dann wurde Tell Afar nach Kämpfen
zurückgewonnen, die eine gute Woche in Anspruch nahmen, und zuletzt, am 30. August nach einer einzigen, jedoch blutigen und opferreichen Offensive von nur einem Tag, der Ort Ayadiya, nahe bei Tell Afar, wohin sich die letzten IS-Kämpfer zurückgezogen hatten.
Die Überlebenden des gefallenen „Kalifates“
Es bleiben noch zwei irakische Territorien im Besitz des IS, die
Enklave Hawiya, Tigris abwärts rund 120 Kilometer von Mosul entfernt, und ein Teil des irakischen Euphrat-Tals, von der syrischen Grenze bis hinab nach Ana. Nach ihrer Bereinigung beginnt ein Ringen gegen den IS anderer Art, indem es darum gehen wird, die Reste des IS als Untergrundbewegung zu bekämpfen. Dies muss einerseits in den Weiten der Wüsten rund um das Zweistromgebiet geschehen und andererseits in Städten und Ortschaften, in denen die Terrormiliz heimliche Zellen bewahren konnte.
Eng verbunden mit diesen Fragen einer zukünftigen Untergrundpräsenz
des IS ist natürlich das Problem, was mit den Angehörigen der Miliz
geschehen soll, die gefangen genommen wurden, sowie mit jenen, die
eine Zugehörigkeit abstreiten, jedoch unter Verdacht stehen, zu ihnen
gehört oder mit ihnen sympathisiert zu haben. Und schliesslich geht es auch um die Familienangehörigen von gefangenen oder umgekommenen IS-Kämpfern oder Funktionären.
Dieser letzte Aspekt wirft auch die in irakischen Verhältnissen
relevante Frage auf, wie solche Familien zu definieren sind. Im Irak
gibt es häufig Grossfamilien, die eng zusammenleben, manchmal in einem Haus, manchmal in Nachbarschaften, aber gelegentlich auch, gerade angesichts der Kriegsereignisse, weit verstreut und
auseinandergerissen.
Lagerbevölkerung
Nach der Befreiung, aber auch Zerstörung von Mosul und der gesamten Ninive-Provinz, als deren Hauptstadt Mosul dient, gibt es rund zwei Millionen Obdachlose und aus ihren Wohnstätten Vertriebene. Rund 900’000 von ihnen sind in Lagern untergebracht, der Rest fand Zuflucht auf individueller Ebene, meist bei Verwandten, die sie aufnehmen konnten.
Die Lager sind sehr unterschiedlicher Qualität. Die meisten von ihnen liegen tief in den Wüsten und sind sogar für Wasserzufuhr sowie für alle Nahrung ganz auf die Hilfsdienste angewiesen, die von staatlicher und von privater Seite, auch von ausländischen NGOs und der Flüchtlingsorganisation der UNO geleistet werden.
Bessere alte und schlechtere neuere Flüchtlingslager
Als Faustregel kann gelten, Lager die schon im Voraus zu Beginn der
Kämpfe eingerichtet wurden oder geplant waren, einschliesslich der
Finanzierung, sind besser organisiert und von erträglicherer
Lebensqualität als solche, die während der Kämpfe improvisiert werden
mussten, weil die Zahl der Vertriebenen alle Erwartungen überstieg.
Wer aus Tell Afar während der Kämpfe floh, oder auch aus Westmosul
während der dortigen Kampfhandlungen, ist schlechter dran, als wer
schon früher die Flucht ergriff, zu Beginn der Kämpfe oder schon zur
Zeit des IS.
IS-Aktivisten verborgen unter den Flüchtlingen
Unter den Flüchtlingen und Vertriebenen befinden sich auch ehemalige
Kämpfer des IS, die sich unter sie mischten, und natürlich auch deren
Familien und Angehörige, gleich ob sie früher mit dem IS sympathisierten oder nicht. Die irakischen Truppen und
Sicherheitsleute, welche die Flüchtigen in Empfang nahmen, führten
sofort eine erste Ausscheidung durch, die vorgenommen wurde, bevor die Geflohenen von den Kampfesfronten weiter in Lager hinter den Fronten gebracht wurden. Die Ausgeschiedenen wurden abgesondert und in für sie bestimmte „geschlossene Lager“ verbracht.
Oft gingen die Truppen einfach so vor, dass sie zunächst alle Männer
im militärfähigen Alter aussonderten und ihren Angehörigen
versicherten, sobald sich erwiesen habe, dass sie nicht zum IS
gehörten, würden sie zu ihnen in die „offenen Lager“ zurückkehren.
Doch dies geschah nicht immer – und selten so zügig, wie es die
Angehörigen hofften.
Es gab aber auch Milizen, in erster Linie Angehörige der schiitischen
„Volkskräfte“, welche die Rache gegen den IS in eigene Hände nahmen
und Gefangene oder Geflohene, meist Männer, erschossen oder sogar zu Tode folterten, die sie als IS-Angehörige betrachteten. Verbrechen
dieser Art wurden von ausländischen Journalisten beobachtet und
aufgedeckt. Der irakische Ministerpräsident hat sie danach indirekt
bestätigt, indem er erklärte, „Missbräuche“ gegen Gefangene und
Geflohene seien in der Tat vorgekommen. Die Regierung werde alles tun, um sie zu untersuchen und zu beenden.
Todesurteile für Angehörige des IS
In der früher von 50’000 assyrischen Christen bewohnten Stadt
Qaraqosh, etwa 20 Kilmometer nördlich von Mosul, die schon im Oktober 2016 befreit wurde, aber immer noch eine nur teilweise bewohnte Ruinenstadt ist, wurde ein erstes Gericht eingerichtet, das über gefangene IS-Angehörige Recht sprechen soll. Es konnte von ausländischen Beobachtern besucht werden. Der Einzelrichter spricht regelmässig Todesurteile aus, wenn er die Zugehörigkeit zum IS als erwiesen erachtet. Es gibt eine Verteidigerin, doch „Human Rights Watch“ erklärte, ihre Vertreter-Gruppe hege Bedenken gegenüber der Qualität der Verteidigung.
Der Richter zeigte einem Journalisten ausgedruckte Computerlisten, auf denen der IS fein säuberlich Namen und Adressen mit Fotos seiner
Angehörigen zusammengestellt hatte. Die irakischen Geheimdienste seien dieser Listen habhaft geworden. Der Richter verfehlte auch nicht darauf hinzuweisen, wie tödlich der IS seine Mitrichter und Mitjuristen verfolgt habe, weil sie dem staatlichen irakischen Recht, nicht der Scharia, verpflichtet waren. Den zum Tode Verurteilten wird gesagt, sie würden nach Bagdad abtransportiert und dort bestehe Gelegenheit, ihr Urteil einer Revision zu unterziehen.
Tiefe Risse im Gewebe der irakischen Bevölkerung
Natürlich gibt es zahlreiche Klagen von Angehörigen, die sagen,
Familienmitglieder seien zu Unrecht der Mitarbeit beim IS angeklagt
worden, aber auch zahlreiche Personen, die Verluste beklagen, die sie
durch den IS erlitten haben, und Kompensation oder auch Rache fordern. Viele Leute sagen auch, sie fürchteten, dass der IS zurückkehren könnte.
Dazu kommen weiter die durch Terror und Mordanschläge über ein
Jahrzehnt hin verschärften Gegensätze zwischen Schiiten und Sunniten. Diese bewirken, dass die Angehörigen beider Konfessionen einander misstrauen. Es gibt gegenwärtig schiitische Milizen, die durch ein Gesetz vom vergangenen Jahr als Bestandteil der Streitkräfte akzeptiert und besoldet werden, jedoch weiterhin unter ihrer eigenen Führung stehen, die in manchen Fällen aus pro-iranischen Aktivisten besteht. Solchen Milizen wird zugetraut und muss zugetraut werden, dass sie darauf ausgehen, bisher sunnitische Dörfer und sunnitischen Grundbesitz in schiitische Hände überzuführen, wenn sie dazu Gelegenheit finden.
Die Gelegenheit ergibt sich manchmal dadurch, dass die ursprünglichen, sunnitischen Bewohner vor dem IS oder vor der
Rückeroberung durch die Regierung geflohen sind. Die Milizen sorgen dann dafür, dass sie nicht mehr in ihre alte Heimat zurückkehren können, während sie sich mit Angehörigen und Konfessionsgenossen dort niederlassen.
Dass dies bei früheren Gelegenheiten bei der „Befreiung“ von Ortschaften rund um Falludscha, Ramadi, Tikrit und in der konfessionell gemischten Diyala-Provinz, nordöstlich von Bagdad und angrenzend an Iran, geschah, ist allgemein bekannt und steigert natürlich Misstrauen und Spannungen in der neu befreiten, sunnitischen und mit christlichen Minderheiten durchsetzten Nordprovinz Niniveh. Für jene früher befreiten, aber immer noch schwer zerstörten Städte und Ortschaften hat der Staat Kompensationen beim Wiederaufbau zerstörter Häuser in der Höhe von umgerechnet 2’000 Dollar versprochen. Damit kommt man auch im Irak nicht sehr weit. Doch den zahlreichen Klagen nach ist es in der Praxis sehr schwierig, diese Gelder auch zu erhalten. Bürokratische Hindernisse stellen sich unvermeidlich ein, und es braucht Beziehungen, um sie zu überwinden.
Wie weit reicht staatliche Wiederaufbauhilfe?
Für die nun befreite Provinz Niniveh und ihre grosse Hauptstadt,
Mosul, sowie für all ihre kleineren Ortschaften bestehen noch keine
staatlichen Hilfszusagen. Man hat dies darauf zurückzuführen, dass der
Staat schlechterdings nicht über die Gelder verfügt, die notwendig
wären, um den Wiederaufbau für alle Geschädigten mitzufinanzieren. Der gesunkene Erdölpreis wirkt sich sehr direkt auf die Staatsgelder aus. Unvermeidlich spielen die konfessionellen Gegensätze auch in diese Finanzierungsfragen hinein.
Beide Seiten, jedoch besonders die nicht an der Regierung beteiligten Sunniten, vermuten, die Gegenseite halte sich schadlos auf Kosten der eigenen Rechte und Ansprüche.
Widersprüchliche politische Rahmenbedingungen
Was bisher mit den vom IS befreiten Regionen geschehen ist, die
meistens seit über einem Jahr unter die Herrschaft Bagdads
zurückgekehrt sind, weckt wenig Hoffnung darauf, dass die schwierigen
administrativen und gerichtlichen Aufgaben, die nun nach der
Befreiung auf die irakische Regierung in Niniveh zukommen, rasch und
reibungslos gelöst werden können. Es fehlt nicht nur an Geld. Es sind
auch die Lösungsansätze, über die keine Klarheit besteht. Was genau
will die Regierung für die Sunniten und für die Schiiten tun, und wie
sieht sie die notwendige Lösung der Kurdenfrage?
Grosso modo gibt es zwei einander bekämpfende politische
Grundkonzeptionen nach denen der Irak sich ausrichten möchte. Man kann sie als die amerikanische und die iranische ansprechen. Die
amerikanische deckt sich weitgehend mit liberalen Grundkonzeptionen,
die aus der Forderung nach individueller Freiheit im Rahmen eines
demokratischen Staates hervorgehen. Die iranische hingegen zielt auf
einen konfessionellen, schiitischen Staat ab, dem die Individuen
weitgehend untergeordnet werden.
Abadi führt, wird aber oftmals blockiert
Mit Ministerpräsident Abadi ist die liberale Grundkonzeption in der
Führungsstellung. Doch sie stösst auf Widerstand im Parlament, in dem
eine Mehrheit von schiitischen Repräsentanten sitzen. Diese sind
längst nicht alle Gefolgsleute Teherans. Doch es gibt solche, und in
den Manövern um Macht und um Gelder, die beständig im Gang sind,
bilden sie den harten Kern einer Partei, deren Anhängerschaft je nach
dem Gang der Geschäfte an- oder abschwillt und gross genug werden
kann, um spezifische Wünsche und Vorhaben des Ministerpräsidenten
abzublocken.
Der frühere Ministerpräsident Nuri al-Maleki, der nach dem Zusammenbruch der Armee vom Sommer 2014 abgesetzt wurde, stützt sich auf diese pro-iranische Tendenz. Ihre Blockierungsposition ist vor allem in Bezug auf Reformvorhaben des Ministerpräsidenten al-Abadi hervorgetreten, die darauf abzielten, die Korruption zu bekämpfen.
Parlamentswahlen am Horizont
Natürlich spielen auch die Aussichten auf Wiederwahl oder Abwahl eine
Rolle in diesem Hin und Her innerhalb der schiitischen Mehrheit.
Parlamentswahlen stehen bevor, sie sollten eigentlich noch dieses Jahr
stattfinden. Doch es gibt einen Streit über das Wahlgesetz und daher
ist unklar, ob der Wahltermin nicht vertagt werden muss.
Für die Wähler gilt, dass die – überwiegend schiitischen –
Volksmilizen beliebter sind als die politischen Parteien. Die Parteien
werden, nicht zu Unrecht, als Instrumente von einflussreichen
Persönlichkeiten gesehen, die dazu dienen, deren Einfluss und Vermögen noch weiter zu steigern. Die Milizen stehen ebenfalls jede für
eine politische Richtung, auch sie haben einflussreiche Individuen als
Anführer und als Mentoren. Doch die Bevölkerung ist ihnen und den sie
bildenden Kämpfern dankbar dafür, dass sie den schiitischen Süden des Landes vor dem Ansturm des IS retteten, als im Sommer 2014 die Armee unter diesem Ansturm zusammengebrochen war.
Wegen dieser Beliebtheit der Milizen neigen die Politiker dazu, die
ihrer politischen Ausrichtung entsprechenden Milizen als Stützen ihrer
Wahlkampagne einzusetzen. Die Milizführer fordern natürlich Gegenleistungen dafür. Eine derartige Gegenleistung war das oben
erwähnte, vom Parlament lancierte und verabschiedete Gesetz, nach dem die Milizen als solche unter die Sicherheitskräfte des Iraks offiziell
eingegliedert, eingestellt und besoldet wurden.
Muqtada as-Sadr als Idol der schiitischen Unterklasse
Um diese grobe Übersicht der politischen Verhältnisse zu vervollständigen, muss man auch die wichtige Strömung des schiitischen Ausnahmepolitikers Muqtada Sadr ansprechen. Dieser Abkömmling der höchst einflussreichen und volkstümlichen Sadr-Familie von Ayatollahs und Märtyrern unter Saddam hat sich zum Vorkämpfer der grossen Masse der bitterarmen schiitischen Slum-Bewohner aufgeworfen und wurde zu ihrem Idol.
Er kämpft mit seinen Millionen von Anhängern gegen die Korruption, bisher erfolglos aber unverzagt. Er wirbt mit seinen Anhängern für eine Beibehaltung des bisherigen nationalen Staates Irak. Er und Sie Seinen bilden im Parlament einen gewichtigen Block, der auch in künftigen Parlamenten, möglicherweise noch wachsend, präsent bleiben wird. Er muss daher in allen taktischen Spielen der Parlamentarier berücksichtigt werden. Zurzeit sind es Sadr und die Seinen, die eine Revision des Wahlgesetzes fordern, bevor wieder gewählt wird.
Viele Köche rühren im Brei des Wiederaufbaus
Die grossen Kriegsaktionen um Mosul und Niniveh-Provinz haben bisher all diese politischen Gliederungen und Widersprüche in den Schatten gestellt. Diese treten aber unvermeidlich ans Tageslicht, wenn es um die politischen und administrativen Aufgaben geht, deren Bewältigung nun zur prioritären Hauptaufgabe wird. Sie wirken sich in ihrer Komplexität lähmend aus, sogar wenn man die überall ebenfalls hindernd eingreifende Korruption als weiteren Hemmschuh unberücksichtigt lässt.
Diese überaus komplexen, wenn nicht sogar wirren Gegebenheiten des
politischen Rahmens haben bisher bewirkt, dass die politische und
administrative Bewältigung der Kriegsfolgen nur sehr zögerlich vorankam und fast alle Massnahmen, die getroffen wurden, Provisorien
geblieben sind. Die weiterhin bestehenden Lager, „offene“ und
„geschlossene“ für die Flüchtlinge aus Ramadi, Falludscha und aus
zahlreichen kleineren Orten, die schon seit über einem, manche seit
zwei Jahren befreit worden sind, bestehen fort.
In manchen der eigentlich „offenen“ Lager ist es den dort untergebrachten Flüchtlingen verboten, in ihre alten Heimatstätten zurückzukehren. Allerhand Gründe werden vorgebracht, warum das so sei. Doch der Verdacht besteht, dass sich in der Zwischenzeit Angehörige der schiitischen Konfession in den ehemals sunnitischen Ortschaften einnisten. Dies kann als das deutlichste Zeichen der bisher geringen Wirksamkeit der Regierungsvorschriften und Aktivitäten gelten.
Alt- und Neulasten
Auch der Mangel an Elektrizitätsversorgung seit den Jahren der amerikanischen Bombardierungen – schon vor und während dem Angriff von 2003 – gehört ins gleiche Kapitel. Er hat dazu geführt, dass jeder, der es vermag, seinen eigenen petrolbetriebenen Generator verwendet, zum Schaden der Umwelt und zum Nachteil der Armen. Nun kommen die neuen gewaltigen Lager und alle Aufgaben des Wiederaufbaus der zerstörten Millionenstadt Mosul und im ganzen irakischen Norden dazu.
Es gibt auch grosse Probleme im Zusammenhang einer ganzen Generation von Kriegskindern, die nicht in die Schule gegangen sind. Und – weit schlimmer – eines Teils dieser Kinder und Jugendlichen, die vom IS absichtlich traumatisiert worden sind, um willenlose Werkzeuge des „Kalifates“ zu werden. Von den besonderen Leiden und Traumata der jessidischen Bevölkerungsteile gar nicht zu reden.
Die Prioritäten der Kriegsführung halfen mit, die administrativen
Mängel beiseite zu schieben. Doch die Bewältigung oder Vernachlässigung solcher Grundaufgaben rückt nun in den Vordergrund. In wieweit sie gelingt, und in wieweit sie versagt, wird für den gesamten Irak politische Folgen haben und dürfte sich für sein
Fortbestehen als Nationalstaat als entscheidend erweisen.