Ein bisschen verwuschelt ist sein schwarzer Lockenkopf, die Augen darunter neugierig und wach… Er sieht fast aus, als sei er soeben einem italienischen Renaissance-Gemälde entsprungen, einem dieser Bilder, bei denen man sich sagt: die Leute darauf sehen so lebendig aus, eigentlich genauso wie wir heute.
Gianluca Capuano ist Dirigent und kommt gerade aus der Probe. Wir treffen uns am Bühneneingang des Zürcher Opernhauses und laufen zu seiner Loge. So nennt er das kleine Dirigentenzimmer. Nebenan übt ein Sänger, auf der anderen Seite klimpert jemand auf dem Klavier, alles gedämpft und stimmungsvoll.
In Zürich dirigiert Capuano «Iphigénie en Tauride», die Oper von Christoph Willibald Gluck, mit Cecilia Bartoli in der Hauptrolle. Es ist eine Neu-Inszenierung unter der Regie des Hausherrn Andreas Homoki. Für Gianluca Capuano und Cecilia Bartoli ist es allerdings schon die zweite «Iphigénie», die sie zusammen machen. Vor fünf Jahren haben sie das Werk an den Salzburger Festspielen mit grossem Erfolg aufgeführt. Allerdings in einer ganz anderen Produktion. Und damals war Gianluca Capuano Chorleiter und Cembalo-Spieler, nicht Dirigent.
Gluck hat die Oper reformiert
«Ich denke, ‘Iphigénie’ ist wirklich eines der Spitzenwerke in der Operngeschichte», schwärmt er. Und dies nicht ohne Grund. «Es ist vielleicht auch die schönste Oper von Gluck. Seine musikalische Sprache war damals schon sehr reif und entwickelt. Was ‘Iphigénie’ aber besonders auszeichnet, ist diese dramatische Synthese von Text und Musik, der Rolle des Chores, und auch der Farben des Orchesters». Capuano strahlt übers ganze Gesicht beim Aufzählen der Qualitäten dieses Werkes. Dann sagt er: «Gluck hat damals die Oper reformiert. Er modernisierte sie, indem er wieder ein paar Schritte zurück zur klassischen griechischen Tragödie machte. Er versuchte, gesungene Linien zu komponieren, die dem gesprochenen Text entsprachen und zwar so natürlich wie möglich».
Glucks Ambitionen waren damals geradezu revolutionär. «Es war ja die grosse Epoche der Kastraten, die eine virtuose Arie singen wollten», sagt Capuano. «Sie nahmen manchmal fremde Arien in die Opern hinein, nur weil sie fanden, dass sie gut zu ihrer Stimme passen würden. Das waren Arien, die konnten zwölf oder dreizehn Minuten lang sein. Zu dieser Zeit hatten die Sänger Macht, sie waren die grossen Stars und sie bestimmten, wo’s lang geht. Es gab kein Regie-Konzept und als Dirigent fungierte im Allgemeinen der erste Geiger, der einfach nur die Sänger begleiten sollte. Eine Oper konnte vier bis fünf Stunden dauern, die Leute assen nebenbei, gingen hinaus und kamen zurück, wenn der umschwärmte Star wieder auftrat».
Diesen Zuständen wollte Gluck ein Ende setzen, «back to the roots» hiess es bei ihm, also zurück zur Geschichte der klassischen Tragödie.
Mut zum Hässlichen
Dazu gehöre auch, so Capuano, dass man sich beim Singen nicht scheuen dürfe, auch mal hässliche Töne zu singen. Damals wie auch heute… «Cecilia hat da überhaupt keine Hemmungen, wenn es dramaturgisch richtig ist», sagt Capuano voller Bewunderung für seine Hauptdarstellerin. «Sie ist fähig, tausende von Farben mit ihrer Stimme zu kreieren und es ist unglaublich, wie sie Musik in Relation zum Text interpretiert. Text und Musik sind bei ihr eng verknüpft und das finde ich in der Oper so wichtig». Diesen «Mut zum Hässlichen» - wenn es sich vom Inhalt her aufdrängt - vermisst Capuano manchmal bei anderen Sängern. «Oft besteht meine Hauptaufgabe darin, sie davon zu überzeugen, ein bisschen in dieser Richtung zu gehen. Das ist schwer! Denn im Allgemeinen denken viele, es sei wichtiger, mit schöner Stimme zu singen, aber der Text erzählt etwas ganz anderes…»
Gianluca Capuano stammt aus Mailand, wo er auch musikalisch ausgebildet wurde. Relativ früh spezialisierte er sich auf Alte Musik und war als Orgel- und Cembalo-Solist international ebenso gefragt wie als Dirigent an der Scala, in Madrid oder Rom, an der Staatsoper Wien oder München oder dem Bolshoi-Theater.
Die erste Zusammenarbeit zwischen Cecilia Bartoli und Gianluca Capuano geht auf die CD «Mission» zurück, das war 2012. Damals hatte Cecilia Bartoli unbekannte Stücke des Komponisten Agostino Steffani aus Archiven zusammengesucht und mit grossem Erfolg wiederbelebt. Es folgten «Norma» in Edinburgh und die Zusammenarbeit in Salzburg. Darüber hinaus haben beide ein ausgeprägtes Interesse daran, den Dingen musikalisch auf den Grund zu gehen. «Cecilia will immer genau wissen, wie die Musik zu ihrer Entstehungszeit aufgeführt wurde. Und das ist auch mein Haupt-Interessensgebiet! Ich habe viel recherchiert und auch darüber geschrieben. So haben sich unsere Interessen ergänzt».
Gefördert vom Fürstenhaus
Aber nicht nur das, sondern inzwischen ist Gianluca Capuano auch Leiter des Orchesters «Les Musiciens du Prince», das Cecilia Bartoli 2016 in der Oper Monte Carlo gegründet hat. Wobei das Orchester mittlerweile natürlich auch an anderen Orten auftritt. Und ab 2023 wird Cecilia Bartoli gleich auch noch die Oper in Monte Carlo als Intendantin leiten, was dem Orchester noch weitreichendere Möglichkeiten bietet. Und der «Prince» im Namen des Orchesters hat durchaus Berechtigung. «Es ist fast wie in der Renaissance, wir sind so eine Art Hof-Orchester», schmunzelt Capuano. «Wir haben allerdings nicht nur mit dem ‘Prinzen’, also dem Fürsten, zu tun, sondern insbesondere auch mit Prinzessin Caroline», präzisiert Capuano. «Sie ist sehr interessiert an Oper und Musik und das Fürstenhaus fördert uns finanziell.
Das ist wunderbar, denn so haben wir die üblichen Probelme anderer Theater, die von staatlichen Geldern abhänging sind, nicht. Ausserdem können wir, je nachdem, was für eine Produktion wir gerade machen, immer die Musiker auswählen, die gerade die besten sind. Ich nenne das meine Ferraris….! Wir kennen uns gut und können Musik auf höchstem Niveau machen».
Damit will Capuano aber – um Himmels Willen – nichts gegen das Zürcher Orchester sagen, das nun mit ihm «Iphigénie en Tauride» spielen wird. Im Gegenteil. Auch da ist er voll des Lobes. «Zürich hat ein grosses Privileg, indem es neben der ‘Philharmonia’ auch das ‘Scintilla’-Orchester hat», sagt er. «Und als Dirigent hat man eine grosse Verantwortung, dieses Erbe von Nikolaus Harnoncourt weiterzupflegen». Denn auf Harnoncourt geht die Gründung der «Scintilla» zurück. In diesem Sinne wird Gianluca Capuano «Iphigénie en Tauride» beherzt und schwungvoll dirigieren - und auch mit der nötigen Rücksicht auf den Text.
«Iphigénie en Tauride»
Christoph Willibald Gluck
Opernhaus Zürich
ab 2. Februar 2020