Jetzt geht er schon in die zweite Spielzeit mit der sogenannten "Opéra des Nations" in Genf: Tobias Richter, der Intendant, ist mit seinem "Grand Théâtre" vorübergehend ins Exil ausgewandert und hat in einem schmucken Holzbau in unmittelbarer Nähe des Genfer Uno-Sitzes Asyl gefunden.
Erste Erfahrungen
Es ist immer heikel, wenn grosse Theater oder Konzertsäle (wie jetzt die Tonhalle in Zürich) eine Generalüberholung brauchen und für mehr als eine Saison geschlossen werden müssen. Der komplizierte Umzug ist das eine, die Funktionalität der neuen, provisorischen Spielstätte das andere.
Inzwischen hat Tobias Richter erste Erfahrungen mit dem Provisorium sammeln können. Und die sind vorwiegend positiver Art. Die "Opéra des Nations" ist gut erreichbar, bietet knapp 1'200 Plätze und Genfer Opernfans füllen das Haus ebenso wie zuvor das "Grand Théâtre", das noch bis 2018 renoviert und saniert wird.
Im Provisorium selbst läuft es wie am Schnürchen. "Wir haben festgestellt, dass alles besser funktioniert, als wir erwartet haben", freut sich Richter. "Für alle unsere Veranstaltungen haben wir eine Auslastung von 92-93 Prozent, was sehr hoch ist. Und obwohl es anfangs etliche Widerstände und eine gewisse Skepsis zu überwinden galt, wird das neue Theater heute sowohl vom Publikum als auch von all denen, die in diesem Haus arbeiten, gleichermassen gut angenommen."
Sparsam und funktionell
Für Richter hat das Provisorium den Charakter einer Shakespeare-Bühne. Auch das Original-Globe-Theater ist ein Holzbau, der andere Möglichkeiten bietet als eine herkömmliche Guckkasten-Bühne. "Die ‘Opéra des Nations’ ist zudem kein Ort für grosse Bühnen-Ausstattungen. Hier muss alles sparsam und funktionell sein. Wie auf der Shakespeare-Bühne werden vor allem Bühnenbilder favorisiert, die man am besten per Hand aufbaut und wieder wegträgt. Im Unterschied zum Shakespeare-Theater haben wir allerdings eine leistungsstarke Beleuchtungsanlage auf dem neuesten technischen Stand, mit der man erheblich 'zaubern' kann. Abgesehen davon funktioniert das Theater aber fast ganz ohne moderne Technik, was für Theaterleute eine sehr schöne Abwechslung und für viele eine neue Erfahrung ist."
Für Tobias Richter ist es inzwischen das fünfte Mal in seiner Theater-Laufbahn, dass ein Provisorium geschaffen und beherrscht werden muss. "Die Lösungen sind jedes Mal besser geworden. Die 'Opéra des Nations' bietet jetzt die bisher beste aller Ausweich-Spielstätten, aber auch die teuerste, die ich je hatte."
Dieses provisorische Theater bietet aber auch Voraussetzungen für eine interessante Repertoire-Erweiterung. "Wir können jetzt zum Beispiel sehr gut sogenannte Alte Musik hier spielen. Das war im ‘Grand Théâtre’ nicht passend, da der grosse Saal für derartige Aufführungen absolut nicht geeignet ist. Im Holzbau dagegen, können wir kleiner dimensionierte Stücke viel besser spielen, weil auch die Klangsituation eine andere ist und sich für leichter instrumentierte Stücke besonders anbietet. So haben wir im Frühling zum Beispiel Charles Gounods ‘Le médecin malgré lui’ gespielt, ein für die Opernbühne eher unbekanntes Stück, und es wurde ein Riesenerfolg, obwohl niemand vorher so recht daran glauben wollte! Das sind wunderbare Momente, verbunden mit der Erkenntnis, dass dies im grossen Haus wohl so gar nicht möglich gewesen wäre. Für uns alle bedeutet dies sicher eine beträchtliche Erweiterung des künstlerischen Horizontes."
Neues Publikum
Positiv ist für Tobias Richter auch, dass es gelungen ist, ein neues Publikum anzusprechen. Ein jüngeres und auch etwas volkstümlicheres, wie er betont. "Das Personal an den Garderoben sagt immer wieder, es kämen – neben dem Stammpublikum – Leute, die sie noch nie gesehen hätten. Und darauf hatten wir ja insgeheim gehofft." Diese Hoffnung hat sich nun also schon mal erfüllt.
Und welche Erwartungen hat er ans renovierte Grand Théâtre? "Der historische Teil, also das Foyer und die öffentlichen Räumlichkeiten, werden renoviert. Das ist sozusagen Kosmetik. Für uns ist es aber vor allem wichtig, dass das restaurierte Gebäude den modernsten Sicherheitsvorschriften entspricht. Wir werden auch ein verändertes Raumprogramm haben und können die Produktionsabläufe damit besser organisieren. Ausserdem bekommen wir zusätzliche Proberäumlichkeiten."
Auch eine echte Überraschung haben die Umbauarbeiten gebracht: "In den unteren Gewölben hat man wunderbare Räume entdeckt, die einfach zugemauert waren!" Im Übrigen wird es eine bessere Akustik geben, die mit physikalischen Mitteln, also vor allem durch Schallwände, die in einem gewissen Winkel angeordnet sind, und nicht durch elektronische Lautsprecheranlagen, erreicht werden soll.
Mit rund 1'600 Plätzen ist das Grand Théâtre um rund ein Drittel grösser als das Zürcher Opernhaus und damit das grösste Theater der Schweiz. Tobias Richter liegt viel daran, beim Umbau keine Plätze zu verlieren. "Wir hatten eine Auslastung von rund 90 Prozent und da ist es finanziell schon wichtig, auch weiterhin viele Plätze anbieten zu können. Der Billett-Verkauf ist ein ganz wichtiges Element."
Neue Künstler
Auch beim Einstieg in die zweite Saison im Holz-Provisorium hat der Billettverkauf bestens funktioniert. Das Gastspiel der konzertanten Aufführung von Henry Purcells "The Indian Queen" unter der Leitung von Teodor Currentzis war ein voller Erfolg. "Seit drei Jahren wollte ich Currentzis nach Genf holen", sagt Richter. "Jetzt hat es geklappt, weil ich ihn mit einem Rameau-Programm auch nach Montreux holen konnte, wo ich die künstlerische Verantwortung für den ‘Septembre Musical’ innehabe. Das war eine Sensation!" Eine Aufteilung der Reisekosten war dabei noch ein sehr hilfreicher Nebeneffekt.
Das Provisorium im Holzhaus hat sich also bisher sehr bewährt. Nach "Manon" es geht es nun im Oktober gleich weiter mit der Tanz-Produktion BA\ROCK des Ballet du Grand Théâtre, mit Musik von Scarlatti, Couperin und Rameau. Die Möglichkeiten des Provisoriums scheinen also voll ausgenutzt, sehr zur Freude von Publikum, Tobias Richter und seinem Team.