Es ist offenkundig - die Vorlage gegen die sogenannte Masseneinwanderung, über die am 9. Februar abgestimmt wird, stellt uns vor ein Dilemma. Für und gegen diese Initiative gibt es gewichtige Argumente. Wer das Dilemma bestreitet und behauptet, es gebe nur eine einzig richtige Entscheidung in dieser Frage, reiht sich in die Kategorie der Ideologen ein – und die findet man rechts und links.
Wo liegt die Obergrenze der Gesamtbevölkerung?
Hier vier Fragen, auf die weder Befürworter noch Gegner der Initiative eine klare Antwort geben und daher die schwierige Entscheidungsfindung illustrieren.
Erstens: Es ist ziemlich unbestritten, dass die Bevölkerung des Kleinstaates Schweiz nicht grenzenlos wachsen kann. Inzwischen leben hier 8 Millionen Menschen, etwa doppelt so viele wie noch vor 60 Jahren. Laut dem „mittleren Szenario“ des Bundesamtes für Statistik könnte die Bevölkerung bis 2030 auf 8,7 und bis 2040 auf etwa 9 Millionen Einwohner anwachsen. Nach dem „hohen Szenario“ (also bei anhaltend hoher Zuwanderung von über 1 Prozent im Jahr) würde die Bevölkerung bis 2030 auf 9.5 Millionen steigen.
Zwar kann niemand zuverlässig die Einwanderungsentwicklung in den nächsten 15 Jahren voraussagen. Doch weshalb drücken sich Befürworter und Gegner der Initiative gegen Masseneinwanderung darum, zumindest eine wünschbare Perspektive zu formulieren? Sind die Gegner der Meinung, auch mit zehn Millionen und mehr Einwohnern könne man in der Schweiz immer noch bestens leben? Wenn ja, sollten sie das offen sagen und begründen. Und im Initiativtext der Befürworter heisst es nur vage, die Höchstzahlen für erwerbstätige Ausländer seien „auf die gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz auszurichten“. Man möchte gerne wissen, ob solche „gesamtwirtschaftlichen Interessen“ auch eine Einwohnerzahl von 10 Millionen zulassen könnten.
„Liebe zu den Bergen und Augen“?
Zweitens: Laut Abstimmungsbüchlein können sich EU-Bürger in der Schweiz nur niederlassen, wenn sie einen gültigen Arbeitsvertrag haben, selbstständig erwerbend sind oder ihren Lebensunterhalt selbst finanzieren und krankenversichert sind. Der frühere SPD-Nationalrat Rudolf Strahm hat aber in einem Zeitungsbeitrag darauf hingewiesen, dass im Jahr 2012 rund 4000 Stellensuchende in die Schweiz kamen, die offenbar diese Kriterien nicht erfüllten und trotzdem im Lande bleiben konnten. Was tun die Behörden, um solchen „Arbeitslosentourismus“ - wie zuvor versprochen - zu verhindern? Könnte man mit einer strikteren Kontrolle die Zunahme der Einwanderung substanziell eindämmen – ohne gegen die bestehenden Verträge mit der EU zu verstossen? Auch auf diese Frage bekommt man im laufenden Abstimmungskampf kaum überzeugende Antworten.
Drittens: Sind die Parteien links und rechts bereit, als Antwort auf die fortschreitende Zersiedelung, die viele Bürger beunruhigt, die Bauzonen-Ordnungen, Baugesetze und andere Massnahmen wie die Durchsetzung der Zweitwohnungs-Initiative konsequent so zu gestalten, dass ein wirksamer Landschafts- und Naturschutz auch auf lange Sicht gewährleistet ist? Damit könnte man die von Befürwortern der SVP-Initiative proklamierte „Liebe zu den Bergen und Auen“ gewiss glaubwürdiger unter Beweis stellen als mit der bürokratischen Kontingentierung von EU-Zuwanderern. Gerade SVP-Exponenten agitieren oft besonders vehement gegen schärfere Raumplanungsgesetze.
Koalitionen schmieden statt Konfrontation mit EU
Viertens: Niemand weiss genau, wie die EU auf die Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens durch die Schweiz reagieren würde. Das Risiko, dass danach auch die übrigen Marktöffnungs-Abkommen der Bilateralen ausser Kraft gesetzt werden, besteht jedenfalls. Immerhin sind die EU-Staaten mit weitem Abstand unsere wichtigsten Handelspartner. Natürlich ist die Kündigung von Verträgen nicht verboten, doch muss man dann auch bereit sein, die für den Wirtschaftsstandort möglicherweise schmerzhaften Konsequenzen, die sich daraus ergeben, ohne Gejammer zu ertragen.
Gäbe es für die Schweiz nicht subtilere Strategien, um gegenüber den EU-Nachbarn eine besser kontrollierte Zuwanderung zu erreichen? Das mögliche Rezept lautet: Koalitionen schmieden mit einzelnen Ländern innerhalb der Union, statt Brüssel im Alleingang vor den Kopf zu stossen. Die Zuwanderungsfrage wird auch in wichtigen EU-Staaten wie Grossbritannien, Deutschland, Frankreich, Österreich in letzter Zeit kritischer diskutiert. Über den gezielten Dialog mit solchen Ländern scheint es nicht unmöglich, gemeinsam mit Brüssel differenziertere Lösungen für die Personenfreizügigkeit zu finden. Ein knappes Nein zur SVP-Masseneinwanderungs-Initiative müsste den Bundesrat unter heilsamen Druck setzen, solche nicht konfrontativen Lösungen mit Energie und Umsicht anzupacken. Wird die SVP-Vorlage am 9. Februar angenommen, wäre diese diplomatische Variante praktisch verbaut.
Fazit aus obigen Abwägungen: Bei allem Verständnis für die Ambivalenz der aktuellen Einwanderungsfrage entscheidet man sich im Zweifelsfalle besser für ein Nein.