Im schmucken Österreich tummelt sich ein politisches Personal, das vor allem unter Führung des feschen Jungkanzlers Sebastian Kurz in rasantem Tempo an gewöhnlichem Anstand verloren hat. Darüber hat der unermüdliche Aufklärer Armin Thurnher seinen neusten Essay geschrieben.
Wenigstens gibt es in Österreich noch Journalisten wie einen Armin Thurnher, der in regelmässigen Abständen über die neusten Entwicklungen einer verlotterten Politik und ihres Personals informiert. In seinem neusten Essay steht Ex-Kanzler-Darsteller Sebastian Kurz mitsamt seiner Entourage – auch und vor allem in den Medien – im Mittelpunkt. Und der Begriff des Anstands, der wohl bald restlos verlorengegangen ist.
«Falter» – Distanz zur Inserate-Korruption
Armin Thurnher ist Gründer und bis heute Herausgeber der Wochenzeitung «Falter», dieser Ausnahmepublikation unbestechlicher politischer Aufklärung in Österreich. Die genau deswegen ökonomisch einen schweren Stand hat, weil sie sich der landestypischen Inserate-Korruption verweigert, bei der sich Parteien und Politiker mit Werbemillionen wohlwollende Berichterstattung und Umfragen vor allem in der allmächtigen Boulevardpresse erkaufen.
Erfunden hat das System der sozialdemokratische Kanzler Werner Faymann, verfeinert haben es dann seine christdemokratischen ÖVP-Nachfolger. Womit wir bei Sebastian Kurz wären und seinem Erbe, das weiterlebt, auch wenn er selber schliesslich zurücktreten musste. Und sich, ganz auf seiner Linie, in die Arme des amerikanischen Unternehmers, Trumpförderers und neoliberalen Fundamentalisten Peter Thiel geworfen hat.
Bitterernster Kern der Kurz’schen Politik
Mit Österreich bringt man ja immer gerne die Operette in Verbindung, nimmt alles nicht so ernst und lächelt. Der geschliffen und manchmal herrlich böse formulierte Essay liest sich zwar wie eine Groteske auf der Komödienbühne, aber das ist nur die Kostümierung. Der Kern ist bitterernst. Kurz’sche Politik heisst nach Thurnher Privatisierung und Gleichschaltung der Medien, Renationalisierung Europas im Sinn einer illiberalen Demokratie und antieuropäischer Interessen und Umverteilung nach oben, auch auf Kosten des Sozialstaats.
Oder noch drastischer: «Er war nicht nur ein Fabrikant schönen Scheins. Er hat ein Land beschissen, seine eigene Partei beschissen, die Medien, die er mit Staatsknete zuschiss, die Kirche, die ihm paraevangelikal huldigte, das Parlament, das er diskreditierte, die Justiz, die er instrumentalisierte, die Staatsanwaltschaft, die er attackierte …»
Und immer dabei, die «Berater», ob von McKinsey kommend oder aus ähnlichem Stall, «Rand-basiertes Consulterzeug» in Thurnhers Worten, neoliberal gestimmt und gegenaufklärerisch gesonnen. Bitter beklagt er den Verlust der grossen Tradition des josephinischen Beamten, der keiner Partei und keinem Politiker zudiente. Während er als Grundlage der Zweiten Republik die Postenschiebung erkennt.
Auch verweist Thurnher auf die historische Besonderheit Österreichs, die bis heute nachwirkt und nur unter Schwierigkeiten unterdrückt wird, nämlich dass die sich immer wieder zur grossen Koalition zusammenraufenden Sozial- und Christdemokratern einst die erbitterten Gegner im Bürgerkrieg 1934 waren. Auch wenn sie später gemeinsam im KZ sassen.
«Ibiza» war nicht der Anfang
Damit, so dachte man, hat dieser smarte und so überaus zugewandt-freundliche Youngster im Slimfit-Anzug nichts (mehr) zu tun, der sich anschickte, vom jüngsten Aussenminister zum jüngsten Kanzler zu werden. Das fesche Gegenbild zur müden Angela Merkel, wie Thurnher bemerkt (wozu seine Wortschöpfung «Feschismus» gehört). Wie sehr man sich da getäuscht sah, und wie mit seinem Aufstieg der Anstand aus der österreichischen Politik so gut wie verschwunden ist, das ist Thurnhers grosses Thema. Das alles fing nicht erst mit «Ibiza» und auch nicht mit Sebastian Kurz an, das war schon länger angelegt, aber die Spitze wurde jetzt erreicht.
Man weiss es dank den digitalen Hinterlassenschaften von Kurz’ Entourage, die nun von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft auseinandergenommen werden. Wo offensichtlich doch noch ein paar Beamte alter Schule wirken. Es könnte sein, dass Kurz eines Tages noch vor Gericht erscheinen muss. Und die grosse Profiteurin dieser neusten Entwicklung ist die FPÖ, die immer stärker wird und von der ÖVP als Koalitionspartner umgarnt wird, wie man jüngst in Niederösterreich und Salzburg nach den Landtagswahlen sieht.
Unterbelichtete Rolle der SPÖ und der Grünen
Etwas zu kurz kommt bei Thurnher die Rolle der oppositionellen SPÖ in diesem Trauerspiel, bzw. die Analyse, weshalb sie so erbärmlich abschneidet. Das ist freilich kein österreichisches Thema alleine, hat aber schon auch spezifische Gründe. Nur einer davon ist die schwache Führung durch Pamela Rendi-Wagner. Gleiches gilt für die Grünen, die eine schwache, nämlich anpasserische Figur machen in der gegenwärtigen Koalition mit der ÖVP. Darüber hätte man gerne noch etwas mehr gelesen, wie auch über die allseits innigen Beziehungen zu Putins Russland.
Doch auch ohne diese thematische Weiterung empfiehlt sich Thurnhers Analyse jedem, der gen Osten schaut. Und sich für die Schattenseiten dieses wunderbaren Landes interessiert – wenn man seine politischen Figuren für einen Moment ignoriert.
Armin Thurnher: Anstandslos. Demokratie, Oligarchie, österreichische Abwege. Zsolnay 2023, 127 Seiten