Eine wahre Pracht ist das frisch sanierte Grand Théâtre in Genf! Vor rund zwei Monaten wurde es wiedereröffnet und sieht heute vermutlich schöner aus als je zuvor. Zugekleisterte Kassettendecken, übermalte Wände, Teppichschichten über Parkett – daran hatte man sich im Grand Théâtre gewöhnt. Und nun das: Alle architektonischen Schätze wurden freigelegt und die Raumgestaltung im Foyer etwas verändert. Luftig ist es jetzt, einladend und einfach prächtig.
Intendant des Hauses ist Tobias Richter. Allerdings nur noch bis zum Ende der Spielzeit. Der Weg zu ihm führt durch ein wahres Labyrinth von schmalen Gängen, die noch sehr an Baustelle erinnern – ganz im Gegensatz zu den «offiziellen» Räumlichkeiten fürs Publikum. Und nun sind wir gleich neben seinem Büro in einem langgezogenen, schmalen Sitzungszimmer: ein Tisch mit Stühlen, durch eine Glasfront vom Gang getrennt und mit Blick auf eine rohe Wand. Wie im Felsenbunker fühlt man sich hier – und gleichzeitig ausgestellt wie im Schaufenster.
Flexibilität und Improvisation
Herr Richter, bedauern Sie, das Grand Théâtre jetzt zu verlassen, nachdem es endlich wieder in Betrieb ist?
«Nein, das war schon lange so geplant», sagt er ohne Zögern, fügt dann aber bei: «Man könnte höchstens sagen, ich hätte mir eine andere Agenda während der vergangenen Monate gewünscht. Wir mussten die letzten Produktionen immer wieder verschieben, weil die Leute vom Bau mit der Sanierung einfach nicht fertig geworden sind.
Dennoch hatten wir einen Riesenerfolg mit unserem Provisorium, dem „Holztheater“. Es gab aber auch Projekte, die von langer Hand für das Grand Théâtre vorgesehen waren und nun nicht realisiert werden konnten. Ein Puccini-Triptychon zum Beispiel, das man nur im grossen Haus hätte machen können. Und mein Nachfolger hat andere Pläne, was auch sein gutes Recht ist.» Aber zum Theater gehöre auch immer viel Flexibilität, um nicht zu sagen: Improvisation, sagt Richter, der sich in diesen Dingen auskennt.
Rückblickend auf die Zeit im «Holztheater», also auf das Théâtre des Nations, wie es offiziell heisst, weil es in der Nähe des Uno-Gebäudes steht, sagt Richter: «Ich bedaure überhaupt nicht, dass wir da wieder raus sind!» Und mit strahlendem Lachen fügt er bei: «Das Holztheater war viel, viel erfolgreicher, als die kühnsten Optimisten zunächst zu hoffen gewagt hatten. Es war toll! Und nun sind wir wieder zurück, aber in einem Theater, das immer noch eine Baustelle ist.
Zum Glück konnten wir aber zumindest alles, was wir angekündigt hatten, auch realisieren. Auch der ’Ring’ ist – mit etwas Glück – phantastisch gelaufen. Glück gehört eben auch dazu, aber ich muss auch meiner Equipe, der Technik und allen anderen Mitarbeitern ein grosses Kompliment machen. Die haben die unfertige Situation im Haus mit etwas Zähneknirschen einfach weggesteckt und mit Riesendynamik dafür gesorgt, dass die Rückkehr ins Grand Théâtre erfolgreich gelaufen ist. Das ist das Positivste und Schönste, was man sagen kann.»
Veraltete Bühnentechnik
Trotz der nun sichtbaren Verschönerung des Theaters gibt es allerdings auch einen Wermutstropfen. Die gesamte Bühnentechnik ist nämlich die alte. Sie war nicht Teil des Sanierungsprojekts. «Es hiess lediglich, die Maschinerie lassen wir unberührt, die muss man nur schonen, schützen und während der Renovationsphase immer mal wieder in Betrieb nehmen, was allerdings nicht stattgefunden hat. Das war kein gutes Management seitens der Stadt. Während der letzten paar Wochen vor der ersten Aufführung nach der Renovation mussten wir in Nacht-und-Nebel-Aktionen mit den Technikern die Maschinerie wieder in Gang bringen. Das war nicht ideal.
Es ist durchaus möglich, dass mein Nachfolger nochmals eine Reparatur- und Sanierungsphase erleiden muss, dann allerdings in Bezug auf die Bühnentechnik. Der mechanische Teil stammt noch aus den Sechzigerjahren, die Hydraulik ist in den Siebzigerjahren neu gemacht worden und die Steuerung des Ganzen läuft über Computertechnik, die auch nicht mehr ganz neu ist. Das ist alles sehr kompliziert. Und es gibt einige Elemente in der Mechanik und der Hydraulik, für die es gar keine Ersatzteile mehr gibt. Das sind alles Aspekte, die auch den sicherheitstechnischen Ablauf einer Vorstellung beeinflussen.»
Drei Jahre haben die Arbeiten nun gedauert. Ein Jahr war geplant gewesen. Und jetzt verabschiedet sich Tobias Richter. Und zwar – wie üblich in solchen Fällen – mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Am meisten vermissen wird er seine Mitarbeiter, sagt er und betont es ganz ausdrücklich. «Theater ist ja ein kreativer Prozess und hat Merkmale einer Familie. Wenn man dann geht, ist es, wie man auf französisch sagt ’il faut tourner la page, changer de paysage‘. Und so ist es!»
Es sei der Zeitpunkt gekommen, wo er gewisse Dinge, die untrennbar mit der Position verbunden seien, nicht mehr machen wolle. Die ständige Auseinandersetzung mit der Politik zum Beispiel, aber auch die dauernde Suche nach Sponsorengeldern bei Privaten und auch bei Wirtschafts- und Finanzleuten. «Aber ich kann mich nicht beschweren, es gibt Standorte in Europa, wo es viel schwieriger ist. Und mit unserem ‘Cercle‘, also der Gruppe von Freunden des Opernhauses, hatte ich wirklich eine treueTruppe.»
Höhepunkt
Als Höhepunkt seiner zehn Jahre am Genfer Grand Théâtre bezeichnet Tobias Richter den «Ring des Nibelungen». «Wenn man einen ‘Ring‘ von A bis Z planen kann, wenn man ihn unter so guten Bedingungen realisieren kann, wie wir sie hatten, dann ist das schon wunderbar. Ausserdem konnte ich zusammen mit anderen Theatern viele Werke koproduzieren, die noch nie in Genf gespielt worden waren. Und: wir hatten nahezu überhaupt keinen Flop! Das ist doch eigentlich unglaublich.»
In einem Punkt zieht Richter aber auch eine negative Bilanz. «Ich hätte viel mehr Neues ausprobieren wollen. Zum Beispiel eine Uraufführung. Da bin ich weit hinter meinen Ambitionen zurückgeblieben. Der Grund dafür waren die vielen Terminänderungen während der Bauphase. Wenn man schon so einen Kraftakt wagt und ein neues Werk in Auftrag gibt, und dann kann man es nicht realisieren, weil die Bühne fehlt, dann ist das schon eine der grössten Katastrophen, die man sich im Theater vorstellen kann.»
Auf zu neuen Ufern
Und jetzt? Wie weiter? Auf zu neuen Ufern! Ganz neu sind sie zwar nicht, aber neu wird Richter nun die künstlerische Leitung beim Concours Geza Anda übernehmen und eine Auffrischung des Klavier-Wettbewerbs vorantreiben. Dies auch im Hinblick auf den 100. Geburtstag Geza Andas 2021 und die grosse Edition, die aus diesem Anlass geplant ist.
Und so ganz lässt er Genf nicht los. «Das Holztheater haben wir nach China verkauft und ich habe zugesagt, zu helfen und es zu begleiten, bis es dort steht. Logistisch eine riesige Herausforderung. Ich bin eine Art Conseiller und helfe den Chinesen beim Aufbau des Gebäudes und der Struktur für den Theaterbetrieb. Ein Teil der Produktionen, die wir für dieses Theater gemacht haben, geht auch nach China. Es ist also nicht nur Hardware, die wir nach China schicken, sondern auch Software.»
Tobias Richter freut sich auf die neuen Aufgaben. Aber insgeheim macht es ihn wohl auch glücklich, dass er dank der Zügelaktion des Holztheaters noch ein bisschen mit dem Grand Théâtre verbunden bleibt. Erst dann kann er das alte Pflichtenheft entsorgen und es kommt die letzte Strophe des chansons: «Il faut tourner la page, jeter le vieux cahier des charges. O yeah!»